10. Kapitel: Zeit der Entscheidung

10 Zeit der Entscheidung *

10.1 Der überwältigende Gewinn Jesus als wahres Haupt zu erkennen, als einzigen Mittler zu Gott
10.1.1 Am Scheideweg: Einer Organisation die Treue halten und damit gegen das Gewissen zu entscheiden, oder eine undefinierte, unsichere Zukunft in Kauf nehmen?

„Aber dies alles, was mir früher als großer Vorzug erschien, habe ich durch Christus als Nachteil und Schaden erkannt. Ich betrachte überhaupt alles andere als Verlust im Vergleich mit dem überwältigenden Gewinn, dass ich Jesus Christus als meinen Herrn kenne“ (Philipper 3:7, 8, Die Bibel in heutigem Deutsch),

Ende 1979 war ich am Scheideweg angelangt.

Fast 40 Jahre lang hatte ich hauptberuflich im Dienst der Organisation gestanden, sie von ganz unten bis ganz oben durchlaufen. Die letzten 15 Jahre war ich in der Weltzentrale tätig gewesen, darunter neun Jahre als Mitglied der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas weltweit.

Diese letzten neun Jahre waren die entscheidenden. In dieser Zeit holte die Realität meine Illusionen ein. Seither weiß ich, daß es stimmt, was ein inzwischen verstorbener Staatsmann einmal geäußert hat:

„Der große Feind der Wahrheit ist häufig nicht die vorsätzliche, betrügerische Lüge, sondern der Mythos: er hält sich zäh, klingt überzeugend und hat doch mit der Wirklichkeit nichts zu tun.“

Langsam wurde mir klar, daß ich mein Leben großenteils auf nichts anderes gegründet hatte als genau dies, einen Mythos – „hält sich zäh, klingt überzeugend und hat doch mit der Wirklichkeit nichts zu tun“. Nicht, daß sich meine Ansicht über die Bibel geändert hätte. Im Gegenteil, ich habe sie durch meine Erlebnisse eher noch mehr schätzen gelernt. Sie allein half mir, in den Dingen, die sich vor meinen Augen abspielten, einen Sinn zu sehen; mit ihrer Hilfe wurden mir die Einstellungen und Gedankengänge der anderen verständlich, und ich erkannte auch, warum ich in meinem Innern einen solchen Druck und solche Spannung fühlte. Alle Veränderung in mir erwuchs aus der Einsicht, daß ich die Bibel aus einer total sektiererischen Sicht heraus gesehen hatte – wovor ich mich eigentlich geschützt geglaubt hatte. Als ich die Heilige Schrift für sich selbst sprechen ließ, ohne daß alles erst durch den Trichter einer fehlbaren menschlichen Einrichtung als „Kanal“ gegangen war, machte ich die Entdeckung, daß sie erheblich an Aussagekraft gewann. Ich war höchst erstaunt darüber, wie viel Wichtiges mir vorher entgangen war.

Was sollte ich tun? Langsam aber sicher kam ich zu der Einsicht, daß der Organisation jegliche Flexibilität abhanden gekommen war (falls es sie je [215] gegeben hatte), daß sozusagen „die Weinschläuche alt und vertrocknet“ waren. Alles, was mir im Laufe der Jahre in der leitenden Körperschaft während der Sitzungen und auch sonst zu Ohren gekommen war, die Grundhaltung, die mir überall begegnete, deutete darauf hin. Man wurde immer verstockter gegenüber jeder biblischen Ermahnung zur Korrektur ihrer Lehren und ihrer Methoden beim Umgang mit denen, die zu ihr um Leitung aufblickten.[1] Heute wie damals bin ich der Ansicht, daß viele in der leitenden Körperschaft gute Menschen sind. In einem Telefongespräch sagte mir ein ehemaliger Zeuge: „Wir waren Mitläufer von Mitläufern.“ Ein anderer sagte: „Wir sind die Opfer von Opfern geworden.“ Beide hatten meines Erachtens recht. Charles Taze Russell übernahm Ansichten seiner Zeitgenossen und wurde deren Mitläufer; er wurde das Opfer der Mythen, die sie als „geoffenbarte Wahrheit“ verkündeten. Alle späteren führenden Köpfe der Organisation übernahmen diesen ursprünglichen Mythos und fügten ihren eigenen Teil hinzu, um das Gebilde auszubauen oder zu festigen. Gegenüber diesen Männern, die mir persönlich bekannt sind, fühle ich nicht Hag oder Erbitterung, sondern Mitleid, denn auch ich war ein solches „Opfer von Opfern“, ein „Mitläufer von Mitläufern“.

10.1.2 Autorität ja, autoritativ Nein! Am Ende der Hoffnung angelangt Veränderungen auf höchster Ebene veranlassen zu können.

Obwohl die Mitarbeit in der leitenden Körperschaft von Jahr zu Jahr schwieriger und belastender für mich wurde, besonders ab 1976, klammerte ich mich an die Hoffnung, alles würde sich zum Guten wenden. Schließlich mußte ich aber einsehen, daß alle Anzeichen gegen diese Hoffnung spra­chen.

Ich war kein Feind von Autorität, doch ich war gegen die extreme Form, in der sie bei uns angewandt wurde. Es konnte einfach nicht Gottes Wille sein, daß Menschen in der christlichen Gemeinschaft eine so allumfassende autoritäre Herrschaft über ihre Mitbrüder ausübten. Nach meinem Bibelverständnis gewährte Christus Autorität in der Gemeinde nur zum Dienen, nie zum Herrschen.[2]

Auch gegen eine „Organisation“ im Sinne einer geordneten Einrichtung hatte ich nichts, denn für mich gehörte so etwas einfach zur christlichen Gemeinde.[3] Doch meiner Meinung nach hatte eine solche Einrichtung ihrem ganzen Zweck und Wesen nach nur dafür da zu sein, den Brüdern zu helfen. Sie sollte ihren Interessen dienen, und nicht umgekehrt. Wie die Einrichtung im einzelnen aussah, war egal, doch sie mußte die Menschen aufbauen, damit sie keine geistigen Kleinkinder blieben, die von Menschen oder Institutionen abhingen, sondern fähig wurden, als voll erwachsene, reife Christen zu handeln. Sie sollten nicht bloß dazu erzogen werden, sich den Regeln und Anweisungen einer Organisation brav anzupassen, sondern Menschen werden, „die ihr Wahrnehmungsvermögen durch Gebrauch geübt haben zur Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht“.[4] Welche [216]Organisationsform man auch wählte, sie müßte zu einem Gefühl echter Bruderschaft führen, mit der freimütigen Rede und dem gegenseitigen Vertrauen, das wahre Bruderschaft kennzeichnet, und nicht zu einer Gesell­schaft, in der wenige regieren und die vielen anderen regiert werden. Und schließlich dürfte es Führung in dieser Einrichtung nur in der Form des beispielhaften Vorbilds geben, des Festhaltens am Wort Gottes, wobei die Weisungen des Herrn und Meisters so weitergegeben und eingeschärft würden, wie er sie gab, ohne sie den scheinbaren Interessen einer menschen­gemachten Organisation anzupassen und ohne daß man die anderen seine Macht spüren ließ, wie es die Großen dieser Welt tun.[5] Dies muß dazu führen, daß allein Christus Jesus das Haupt ist und nicht die Autorität irgendeines irdischen Herrschaftsapparats und seiner Funktionsträger über allem steht. Bei uns hatte ich den Eindruck, daß die Funktion Jesu Christi als aktives Oberhaupt überschattet und vollständig verschüttet wurde durch das autoritäre Gehabe, das ständige Eigenlob und die dauernde Selbstanpreisung der Organisation.

10.1.3 Das Wort der Schrift erneut über jedes Menschenwort stellt ist in Gefahr!

Darüber hinaus sah ich auch den Wert und die Notwendigkeit des Lehrens ein. Doch ich konnte es nicht akzeptieren, daß man die Auslegungen der Organisation, gegründet auf schwankendes menschliches Denken, gleich­rangig neben das stellte, was in Gottes unveränderlichem Wort selbst stand. Daß man den eigenen Traditionen so großes Gewicht beimaß, ja sogar das Wort Gottes verdrehte und zurechtstutzte, bis es zu diesen überkommenen Ansichten paßte, das hat mich seelisch stark belastet, genauso wie die Inkonsequenz im Handeln, die dazu führte, daß mit zweierlei Maß gemes­sen wurde. Was ich nicht akzeptieren konnte, war nicht die Lehre, sondern der Dogmatismus.

Ich habe meine Ansichten während meiner Tätigkeit in der leitenden Körperschaft nach Kräften vertreten. Das hat von Anfang an zu Schwierig­keiten geführt und mir Feindschaft eingebracht. Es endete mit Ablehnung und der Ausstoßung.

Im Herbst 1979 sollte ich im Rahmen einer „Zonenreise“ mehrere Zweigbüros in Westafrika besuchen, darunter einige in Ländern, deren Regierung die Tätigkeit der Zeugen Jehovas offiziell verboten hatte. Da ich wußte, wie schnell es passieren konnte, daß ich verhaftet und für längere Zeit ins Gefängnis gesteckt wurde, fühlte ich mich verpflichtet, einige meiner Sorgen mit meiner Frau zu besprechen. (Da es um ihre Gesundheit nicht sehr gut stand, hielt ich es für besser, die Reise allein zu unternehmen.) Sie hatte zwar zwangsläufig mitbekommen, daß ich seelisch sehr unter Druck stand, doch ich hatte ihr nie gesagt, welche Probleme mich eigentlich quälten. Dazu hatte ich mich nicht berechtigt geglaubt. Jetzt hingegen schien mir das nicht nur angebracht, sondern ich verspürte sogar eine Verpflichtung, mit ihr über die Dinge zu reden, die mir aufgefallen waren, gerade beim Lesen der Bibel. Wieso sollte ich mich von Menschen abhalten [217] lassen, mit der eigenen Frau Wahrheiten zu besprechen, auf die ich in Gottes Wort gestoßen war?

Wir kamen zu dem Schluß, daß es für uns das Beste sei, die Tätigkeit in der Weltzentrale aufzugeben. Unser innerer Friede und unsere Gesundheit erforderten es. Zudem hatten wir die schwache Hoffnung, doch noch ein Kind zu bekommen, und hatten bereits mit zwei Ärzten darüber gespro­chen, unter anderem mit Dr. Carlton, einem der Betriebsärzte.[6] Ich war 57 und wußte, daß es in diesem Alter äußerst schwierig sein würde, Arbeit zu finden. Doch ich vertraute darauf, daß sich schon irgendein Weg finden würde.

10.1.4 Neuer Wein gehört nicht in alte Weinschläuche! Korrupter und überalterter Machtapparat, unfähig zu wahren Korrekturen, der echten Wahrheit und Gerechtigkeit kaum zugeneigt

Die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Einerseits dachte ich, durch mein Verbleiben in dem Gremium könnte ich wenigstens noch für andere die Stimme erheben, für die Heilige Schrift eintreten, für Mäßigung und Ausgeglichenheit plädieren, auch wenn man mich nur unwillig anhörte oder ignorierte. Andererseits spürte ich, daß mir nicht mehr viel Zeit dafür verbleiben würde, sondern daß man mir bald jeglichen Einfluß in der leitenden Körperschaft nehmen und mich mundtot machen würde. Genauso schwer wog, daß ich unbedingt aus dem schwelen­den Klima des Argwohns und der Verdächtigungen herauskommen und keinen Anteil mehr an diesem Machtapparat haben wollte, für den ich keine biblische Grundlage mehr finden und dessen Beschlüsse ich moralisch nicht befürworten konnte.

Wäre es mir um Sicherheit und Bequemlichkeit gegangen, so hätte ich mich ganz sicher entschieden zu bleiben, denn den Mitarbeitern in der Weltzen­trale wurden alle physischen Bedürfnisse erfüllt. Wegen unserer vielen Dienstjahre stünde uns die freie Auswahl unter den besseren Zimmern zu, die in den vielen Wohngebäuden der Gesellschaft von Zeit zu Zeit frei wurden.[7] Wir würden mehr als sechs Wochen Urlaub im Jahr haben, und diese könnten, da ich der leitenden Körperschaft angehörte, jederzeit mit Gastvorträgen in allen Teilen der USA und Kanadas verbunden werden, oder auch mit Zonenreisen in Gegenden rund um den Erdball. (Die Mitglieder der leitenden Körperschaft können ihren Urlaub regelmäßig an Orten verbrin­gen, von denen andere nur träumen.) Allein 1978 waren meine Frau und ich mehr als fünfzigmal mit dem Flugzeug unterwegs; im Laufe der Jahre hatten wir Reisen nach Mittel- und Südamerika, nach Asien, Europa, Afrika und in den Mittleren Osten unternommen.

10.1.5 Gewohnt vor Zehntausenden von interessierten Zuhörern zu reden, beständiger Ehrengast zu sein

Wäre es mein Ziel gewesen, angesehen und prominent zu sein, so hatte ich mir gar nicht mehr wünschen können. Pro Vortragseinladung, die ich im Monat annahm, mußte ich drei bis vier weitere ablehnen. Kam ich nach [218] Paris, Athen, Madrid, Lissabon, Mexiko City, Sao Paulo oder in fast jede andere Weltstadt, so brauchte ich nur dem dortigen Zweigbüro Bescheid zu geben, und schon wurde eine Veranstaltung organisiert, zu der Tausende von Zeugen Jehovas strömten. Vor Menschenmengen von 5000 bis 30 000 Personen zu sprechen wurde fast etwas Alltägliches. Wohin auch immer ein Mitglied der leitenden Körperschaft reist, praktisch immer ist er Ehrengast bei seinen Glaubensgenossen.[8]

Innerhalb der leitenden Körperschaft war es nicht schwer, allgemein geach­tet zu sein. Man mußte nur immer wieder neu seine vollständige Loyalität gegenüber der Organisation verkünden und sich, von seltenen Ausnahmen abgesehen, bei Abstimmungen und in Diskussionen auf die Seite der Mehrheit schlagen. Das ist gar nicht zynisch gemeint. Die wenigen anderen Mitglieder des Gremiums, die sich aus Gewissensgründen genötigt sahen, hin und wieder gegen eine traditionelle Leitlinie oder Lehre Stellung zu beziehen, können das bestätigen, auch wenn sie es vielleicht nicht laut sagen mögen.

Trotz allem waren mir Positionen in zwei der einflußreicheren Komitees der leitenden Körperschaft zugewiesen worden, im Schreibkomitee und im Dienstkomitee. Im Schreibkomitee hielt man es für richtig, mir die redak­tionelle Verantwortung (nicht das eigentliche Abfassen) für mehrere Bücher zu übertragen, die dann in vielen Sprachen in Millionenauflagen gedruckt wurden[9]

Das Geheimrezept, falls man es so nennen kann, wie sich eine prominente Position in der Organisation halten ließ, war nicht schwer zu erkennen. Mein Gewissen ließ es aber nicht zu, es anzuwenden.

10.1.6 Wenn unser Gewissen uns zum Feind aller anderen macht, wird dort Mitläufertum vom Machtapparat verlangt

Ich hätte blind gewesen sein müssen, um nicht zu sehen, wie sehr ich bei vielen aneckte mit meinen Äußerungen zu einigen Themen, auch wenn, wie ich meine, klare biblische Grundsätze mir den Weg wiesen. Manches Mal ging ich zur Sitzung mit dem festen Vorsatz, lieber gar nichts zu sagen, als Feindseligkeiten hervorzurufen. Wenn dann aber Fragen behandelt wurden, die einschneidende Folgen für das Leben vieler Menschen haben würden, konnte ich mich einfach nicht zurückhalten. Sonst hätte ich mich schuldig gefühlt. Ich machte mir nicht vor, daß ich mit meinen Worten viel ausrichten würde, denn aus Erfahrung wußte ich, daß meine Lage sich dadurch eher nur verschlechterte. Wenn ich aber nicht entschieden für die Grundsätze eintrat, die nach meinem Verständnis das Christentum erst ausmachten, wozu hätte ich dann überhaupt noch dort sitzen sollen? Was für einen Sinn hätte mein Leben dann noch gehabt? [219]

Etwa ab 1978 machte sich in der leitenden Körperschaft – wie bereits erwähnt – ein verändertes Klima bemerkbar. Die anfängliche Euphorie, von der die großen Umwälzungen in der Herrschaftsstruktur begleitet gewesen waren, war verflogen, Der Geist des brüderlichen Miteinander, der eine Zeitlang vorzuherrschen schien und zu Mäßigung und größerer Beweglich­keit im Denken geführt hatte, war ebenfalls deutlich geschwunden. Jeder hatte sich in seine Funktionen in den verschiedenen Komitees eingearbei­tet, und nach einiger Zeit wollten die ersten ihre Kräfte messen. Es bildeten sich deutliche Fraktionen heraus, so daß man Abstimmungsergebnisse oft mühelos vorhersagen konnte.

Erhoben beispielsweise Milton Henschel, Fred Franz, Ted Jaraez und Lloyd Barry die Hand, konnte man im allgemeinen sicher sein, daß auch Carey Barber, Martin Pötzinger, William Jackson, George Gangas, Grant Suiter und Jack Barr ihre Hand heben würden. Blieben die Hände der ersten Gruppe unten, war es gewöhnlich bei der zweiten ebenso. Bei einigen anderen war es wahrscheinlich, daß sie genauso stimmen würden, doch war ihr Abstim­mungsverhalten nicht so vorhersagbar. Bis auf seltene Ausnahmen ergab sich jedes Mal dasselbe Bild.

Nach diesem Schema verliefen die Abstimmungen besonders dann, wenn es um irgendeine der traditionellen Positionen oder Lehren ging. Man konnte vorher fast sicher sein, wer für die Beibehaltung der traditionellen Linie und gegen jede Änderung stimmen würde. Selbst in der Frage des Zivildienstes, die in einem anderen Kapitel bereits behandelt wurde, konnte diese Gruppe, obgleich sie überstimmt wurde, die Zweidrittelmehrheit blockieren, mit der die offizielle Haltung in dieser Frage geändert worden wäre.

Bei besonders strittigen Fragen gab es zumindest Anzeichen dafür, daß einige das Stimmverhalten anderer zu beeinflussen suchten. Meines Erach­tens hätte jemand, der Informationen verbreiten wollte, die nicht direkt zur laufenden Sitzung gehörten, dies am besten schriftlich tun und jedem ein Exemplar zukommen lassen sollen. Dann wären alle auf dem gleichen Informationsstand gewesen und die Karten hätten offen auf dem Tisch gelegen. Solche schriftlichen Vorlagen waren aber ziemlich selten und wurden dann auch kaum jemals Gegenstand der Diskussion.

10.2 Ausschlussverfahren vor Gerichtskomitees im Bethel Brooklyn
10.2.1 Traumatische Ereignisse in der Weltzentrale kündigen sich an: Die Jagd auf „Abtrünnige“ beginnt!

Was sich in der Sitzung der leitenden Körperschaft am 14. November 1979 abspielte, war meiner Ansicht nach schon eine Ankündigung der traumati­schen Ereignisse, die im Frühjahr 1980 die Weltzentrale erschütterten und in deren Gefolge mehrere Mitarbeiter wegen „Abtrünnigkeit“ aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurden und ich mich aus dem Führungsgre­mium zurückzog und die Weltzentrale verließ.

Vier unbedeutende Punkte standen an jenem Tag auf der Tagesordnung; alle Anträge gingen einstimmig über die Bühne. Aller Anschein von Harmonie verflog aber sehr schnell, als Grant Suiter sagte, er wolle eine Angelegenheit zur Sprache bringen, die zu beträchtlichem Gerede geführt habe. Er habe gehört, daß einige Mitglieder der leitenden Körperschaft sowie Mitarbeiter der Schreibabteilung in ihren Vorträgen Ansichten vertreten hätten, die [220] nicht mit den Lehren der Gesellschaft übereinstimmten, und das führe zu Verunsicherungen. Auch habe er gehört, fuhr er fort, daß Mitarbeiter der Weltzentrale Dinge sagten wie: „Wenn König Saul stirbt, wird sich alles ändern.“[10]

Ich hatte nie jemand in der Weltzentrale eine derartige Bemerkung machen hören. Grant Suiter sagte auch nicht, woher er seine Information hatte oder wer die Ursache des „Geredes“ sei, auf das er sich bezog, doch er wurde sehr aufgeregt. Seine Worte und sein Gesichtsausdruck spiegelten höchste Erregung. Zum ersten Mal fiel in einer Sitzung der leitenden Körperschaft das Wort „Abtrünnigkeit“.

Eine längere Diskussion entspann sich. Die meisten sagten, ihnen sei das völlig neu. Ich erklärte, viele Reden gehalten zu haben, sowohl in verschie­denen Teilen der USA wie auch in zahlreichen anderen Ländern, doch in keiner einzigen hätte ich etwas gesagt, das nicht mit den von der Organisa­tion veröffentlichten Lehren übereinstimmte. Falls irgendetwas Abwei­chendes gesagt worden sei, so wäre ein Beleg sicher leicht zu beschaffen, denn daß ein Vortrag eines Mitglieds der leitenden Körperschaft nicht von mindestens einem Zuhörer auf Band aufgenommen würde, das kam kaum vor. Auf Gerüchte brauchte man sich dann ganz bestimmt nicht zu stützen, denn in einem solchen Fall würde sicher jemand schreiben und um Klärung bitten. Auf meine Frage, ob er einen Fall aus den Reihen der leitenden Körperschaft oder der Schreibabteilung persönlich kenne, antwortete Grant Suiter lediglich, daß darüber geredet würde und daß Mitglieder von Zweig­komitees, die an Schulungskursen in der Weltzentrale teilnähmen, gesagt hätten, sie seien verunsichert, weil von den Dozenten ihrer Kurse Wider­sprüchliches zu hören gewesen sei.

10.2.2 Das Lehrkomitee und die Untersuchung: Begann das Königreich Jesu Christi bereits 33 u.Z.?

Es wurde beschlossen, das Lehrkomitee (dem die Schulungskurse unter­standen) mit einer Untersuchung zu beauftragen. In einer späteren Sitzung berichteten dessen Mitglieder, sie hätten keine Beweise für die genannten Vorwürfe gefunden. Die einzige Verunsicherung unter den Zweigmitarbei­tern habe es über einen Lehrpunkt gegeben, den Carey Barber im Unterricht behandelt habe. Er habe gesagt, das Königreich Christi habe im Jahre 33 U.Z. bei der Himmelfahrt zu herrschen begonnen, und das konnten manche mit der Lehre über 1914 nur schwer in Einklang bringen.[11] Schließlich kam man überein, daß alle Mitglieder der leitenden Körperschaft bei ihren Anspra­chen Vorsicht walten lassen sollten. Ausdrücklich wurde aber gesagt, dies sei kein Versuch, die privaten Gespräche, wie beispielsweise solche mit engen Freunden, in irgendeiner Weise zu reglementieren. Wie sich später zeigen sollte, konnte man sich darauf aber nicht berufen.

10.2.3 Gefährliches Glatteis: Irgendeine Lehre der Gesellschaft öffentlich oder privat in Zweifel zu ziehen!

Ich hielt diese Diskussion für bedeutsam. Grant Suiter hatte zwar auf [221] keinen konkreten Fall aus der leitenden Körperschaft hingewiesen, in dem jemand in einem Vortrag offiziell Meinungen vertreten hatte, die der veröffentlichten Lehre widersprachen, doch mir waren mehrere solcher Fälle bekannt. Erwähnt hatte ich bereits, daß Albert Schroeder auf seiner Europareise die Ansicht vertreten hatte, der Ausdruck „diese Generation“ könne eine andere Bedeutung haben als bislang offiziell verkündet. Das war uns gleich mehrfach von verschiedenen Orten berichtet worden. Genauso war bekannt, daß Fred Franz, der Präsident, eine neue Auslegung der „Schlüssel des Königreichs“ (Matthaus, Kapitel 16, Vers 19) eingeführt hatte, als er verschiedene Klassen der Gileadschule unterrichtete. Auch dies stand in Widerspruch zur bisher veröffentlichten Lehrmeinung der Organi­sation und war nicht vorher mit der leitenden Körperschaft abgesprochen worden. Diese Deutung wurde obendrein nicht als eine mögliche, sondern als die richtige vorgetragen.[12] Ganze Gileadklassen gingen in ihr Zuteilungsland mit dieser Ansicht, von der ihre Brüder alle noch nie gehört hatten.

Keiner dieser Fälle aber wurde in der Sitzung angesprochen, und mir lag auch nichts daran, davon anzufangen.[13] Ich spürte aber, daß da im Unter­grund etwas schwelte, das früher oder später zu Tage treten würde. Und wenn es so weit wäre, darüber hatte ich keinen Zweifel, dann würde es sich mit voller Wucht gegen mich und Edward Dunlap richten, der dem Gremium nicht angehörte, und nicht gegen einen der Genannten.

10.2.4 Ausstieg aus dem Dienstkomitee erwogen, um kein Stolperstein für andere zu sein?

Ich hatte schon erwogen, mich aus dem Dienstkomitee zurückzuziehen wegen der Einstellung, die mehrere seiner Mitglieder hatten, und nur noch im Schreibkomitee mitzuarbeiten. In einem Gespräch mit Robert Wallen, der Sekretär des Dienstkomitees war (aber nicht zur leitenden Körperschaft zählte), erwähnte ich, daß ich fast so weit sei, aus dem Komitee auszustei­gen.[14] Seine Reaktion war: „Das kannst du doch nicht machen! Es muß doch ein Gegengewicht in dem Komitee geben.“ Er bedrängte mich, meinen Entschluß rückgängig zu machen.

Doch dieselbe feindselige Einstellung, die in der Sitzung vom 14. November 1979 zu erleben gewesen war, kam auch in einer anderen Sitzung wieder zum Vorschein. Dieses Mal ging es, wie erwartet, direkt gegen mich. Lloyd Barry, der die Aufgabe hatte, jede Ausgabe des Wachtturms zusammenzustellen [222] und für die Veröffentlichung vorzubereiten, äußerte sich sehr besorgt darüber, daß ich eine ganze Anzahl von Wachtturm-Artikeln (er nannte die genaue Zahl), die durch das Schreibkomitee gegangen waren, nicht abgezeichnet hätte. (Jeder für die Veröffentlichung bestimmte Artikel ging erst an alle fünf Komiteemitglieder, und ihr Zeichen auf dem Deckblatt bedeutete ihre Zustimmung.) Ich verstand zwar nicht, weshalb er, statt mich vorher in einer Sitzung des Schreibkomitees daraufhin anzusprechen, das nun vor versammelter Mannschaft vorbrachte, gab aber zu, daß er recht hatte. Erstaunt war ich nur, die genaue Anzahl der Artikel, um die es ging, zu hören, denn ich hatte sie gar nicht gezählt. Er hatte es getan.

10.2.5 Fehlendes Zeichen der Zustimmung auf dem Deckblatt, wo das Gewissen mit dem Artikelinhalt nicht einig ging. Vom freiwilligen Rücktritt abgebracht.

Als Begründung sagte ich, daß ich in diesen Fällen ganz einfach aus Gewissensgründen nicht hatte mein Zeichen machen können. (Manche Artikel stammten vom Präsidenten und behandelten die Prophezeiungen Jeremias, wobei die angebliche prophetische Rolle der Organisation und bestimmte Daten, wie 1914 und 1919, stark herausgehoben wurden.) Ich hatte weder versucht, die Veröffentlichung dieser Artikel irgendwie zu behindern, noch hatte ich eine Streitfrage daraus machen wollen. Das Fehlen der Unterschrift bedeutete lediglich Enthaltung, nicht Widerspruch. Wenn das ein Problem sei, so erklärte ich vor allen Anwesenden, wenn es unerwünscht sei, daß jemand aus Gewissensgründen seine Unterschrift nicht gebe, dann sei die Lösung einfach: Man könne jemand anders für das Schreibkomitee einsetzen, dem es keine Gewissensbisse bereite, seine Zustimmung zu geben. Zugleich erwähnte ich, daß ich mit dem Gedanken gespielt hätte, von meinem Posten im Dienstkomitee zurückzutreten, um mehr Zeit für die Arbeit in der Schreibabteilung zu gewinnen. Ich überließ die Entscheidung ganz den anderen und sagte ihnen, daß mir jede Lösung recht sei.

Nach der Sitzung sprach mich Lyman Swingle, damals Koordinator sowohl des Schreibkomitees wie auch der Schreibabteilung. in seinem Büro an und meinte: „Das kannst du mir doch nicht antun! Wenn sie von sich aus einen anderen im Schreibkomitee einsetzen, meinetwegen. Aber biete ihnen bloß nicht selber den Rücktritt an!“ Er war richtig aufgebracht. Ich erwiderte, daß ich das alles der leitenden Körperschaft überlassen wolle; ich hätte aber die Zwistigkeiten satt und sei froh über alles, was den auf mir lastenden Druck wenigstens zum Teil reduziere. Noch einmal drängte er mich.

Man beließ mich in meinen Positionen.

Trotzdem hatte ich eine starke Vorahnung, daß sich etwas zusammen­braute. Doch daß ich mich nur sechs Monate später in einem Hexenkessel fast fanatischer Verfolgung wiederfinden würde, daß die leitende Körperschaft­ mit drastischen Maßnahmen einschreiten würde gegen etwas, das sie als Verschwörung großen Stils ansah, durch die die Organisation in ihren Grundfesten bedroht sei – das konnte ich damals noch nicht wissen. Im Folgenden will ich darlegen, was diese angebliche gefährliche Verschwö­rung eigentlich war, so daß jeder selbst abschätzen kann, wie „gewaltig“ deren Ausmaße waren, wie schwer die „Vergehen“ der Beteiligten waren, [223] welche Geschehnisse zu der sogenannten Säuberung im Frühjahr 1980 führten, und ob die Bedrohungsangst. die in der Organisation entstand und die bis zum heutigen Tage vorherrscht, wirklich begründet war.

10.2.6 Zweifel an der gängigen Lehrmeinung, Jesu sei nur Mittler der Gesalbten

Am 16. November 1979, einen Tag vor meiner Abreise nach Paris, der ersten Station in Richtung Westafrika. leitete der Präsident der Gesellschaft die morgendliche Bibeltextbesprechung. da er in dieser Woche gerade den Vorsitz hatte. In seinem Kommentar sagte er, einige zögen die Ansicht der Gesellschaft in Zweifel (die in einer der letztenWachtturm-Ausgaben erschienen war), daß Jesus Christus nur der Mittler der „Gesalbten“ sei und nicht auch der übrigen Millionen Zeugen Jehovas[15] Von diesen Zweiflern sagte er:

„Sie möchten alle miteinander vermengen und Jesus Christus zum Mittler für jeden Tom, Dick und Harry machen.“

Unwillkürlich mußte ich an all die Toms und Dicks und Harrys denken, die es unter den anwesenden Mitarbeitern der Weltzentrale gab, und ich fragte mich, was sie dabei wohl dachten. Mir war bekannt, daß über dieses Thema viel gesprochen wurde, zum Teil sehr negativ.

Der Präsident betonte dann, daß die Lehre der Gesellschaft richtig sei. Der einzige Bibeltext. den er dabei anführte, war aus Hebräer, Kapitel 12, und zwar die Worte:

„Was ihr erduldet, dient euch zur Züchtigung. Gott handelt mit euch als mit Söhnen. Denn welchen Sohn wird ein Vater nicht züchtigen? Wenn ihr aber ohne die Züchtigung seid, deren alle teilhaftig geworden sind, seid ihr wirklich illegi­time Kinder und nicht Söhne.“

Als Veranschaulichung gebrauchte er das Bild der Züchtigung eines Pferdes, das lernen soll, im Kreis zu gehen: „Hin und wieder sind vielleicht ein paar Peitschenhiebe nötig, um das Tier dazu zu bringen.“ Er forderte jeden, der die Lehre der Gesellschaft in diesem Punkt anzweifelte, auf stillzuhalten, die Züchtigung anzunehmen und „zu zeigen, daß er den Mummhat, weiter treu zu bleiben!“[16]

Am Abend desselben Tages flog ich nach Paris ab, doch noch tagelang fühlte ich mich angewidert, nicht nur von diesen Worten, sondern von der ganzen Haltung, mit der das Problem angegangen wurde, und von dem Geist, den ich bereits in den letzten Jahren erlebt hatte.

10.2.7 In New York wird ein „anderes Evangelium“ verbreitet als das des Jesus Christus!

Für mich ging aus der Bibel klar hervor, daß Jesus Christus seine Mittlerdienste jedem Tom, Dick und Harry anbot, um sie mit Gott zu versöhnen. Und er legte sein Leben für alle Menschen nieder als ein Loskaufsopfer, dessen Wohltaten allen und jedem zugänglich waren, der sie annehmen wollte. Das war genau das Gegenteil dessen, was dort in der Weltzentrale verkündet worden war. Es hatte den Anschein, als bekämen wir „ein [224] anderes Evangelium“ zu hören, nicht die gute Botschaft, die uns die inspirierten Bibelschreiber des 1. Jahrhunderts übermittelt hatten.

Das vorletzte Land in Afrika, das ich besuchte, war Mali. Die meisten Missionare dort stammten aus Frankreich. Nachdem ich mit großer Mühe in Französisch einige Punkte vorgetragen hatte, die ich in jedem Land mit den Missionaren besprach, fragte ich, ob Fragen bestünden. Als zweite Frage kam: „Der Wachtturm sagt, Jesus sei nur der Mittler für die Gesalbten, nicht für uns übrige. Könntest du uns das bitte näher erklären? Heißt das, daß er nicht einmal im Gebet unser Mittler ist?“

Hätte ich es darauf abgesehen Zweifel zu säen, so wäre das sicher eine günstige Gelegenheit gewesen. Ich bemühte mich aber, sie zu beruhigen, und verwies auf 1. Johannes, Kapitel 2, Vers 1, wo von Jesus als dem „Helfer“ derer gesprochen wird, für die er ein „Sühnopfer“ ist, auch für die „der ganzen Welt“. Selbst wenn sie Jesus nicht als ihren Mittler ansehen könnten, sagte ich, so doch bestimmt als ihren Helfer. Und sie könnten ganz sicher annehmen, daß er an ihnen ebenso sehr interessiert sei wie an sonst irgendjemand auf Erden.

Ich hatte den Eindruck, sie damit hinreichend beschwichtigt zu haben, und zugleich hatte ich die Aussagen des Wachtturm in keiner Weise in Zweifel gezogen.

Ein paar Tage später allerdings, als ich zum Flugplatz fahren wollte, um nach Senegal weiterzureisen, kamen die Missionare vorbei, um Abschied zu nehmen und eine der Missionarinnen trat zu mir und fragte: „Aber ist Jesus nicht wenigstens im Gebet unser Mittler?“ Ich konnte nichts weiter tun, als im Wesentlichen nur das zu wiederholen und noch einmal zu betonen, was ich bereits bei der Zusammenkunft im Missionarheim gesagt hatte.

Nach etwa drei Wochen traf ich wieder in Brooklyn ein. Mir war nichts zugestoßen in Afrika; nur einmal war nachts der Zug entgleist, als ich gerade auf der 20stündigen Fahrt von Wagadugu (Obervolta, seit 1984 Burkina Faso) nach Abidschan in der Elfenbeinküste war.

Am Morgen nach meiner Rückkehr saßen beim Frühstück neben mir ein Mitglied eines Zweigkomitees und seine Frau, die zu Besuch weilten. Kaum hatte die Mahlzeit begonnen, wollte die Frau wissen, ob sie mir eine Frage stellen könne. Ich erwiderte: „Fragen stellen kannst du. Ob ich sie dir beantworten kann, weiß ich nicht.“ Sie sagte, am Abend zuvor habe sie demWachtturm-Studium beigewohnt, in dem ein Artikel über die Mittlerrolle Christi behandelt worden sei. Und dann stellte sie haargenau dieselbe Frage wie die Missionarin in Mali. Ich gab ihr dieselbe Antwort.

Das folgende Wochenende mußte ich in New Jersey einen Vortrag halten, und hinterher kam eine Zuhörerin zu mir, eine aktive Zeugin, die sagte, sie habe einige Fragen. Es waren drei Fragen, und die zweite hatte mit der Mittlerrolle Christi zu tun. Und wieder gab ich dieselbe Antwort.

Ich erwähne diese Vorgänge, weil sie veranschaulichen, wie ich vorging, wenn mir in offizieller Funktion Fragen zu Lehrpunkten der Organisation gestellt wurden. Hatte ich Zweifel über die biblische Grundlage einer Lehre [225] der Organisation, so besprach ich diese nur mit alten, vertrauten Freunden, die (soweit es Männer waren) alle ein Ältestenamt bekleideten. Bis 1980 gab es außer meiner Frau nur vier oder fünf Menschen auf der Erde, die überhaupt etwas von meinen Bedenken wußten, und auch von ihnen kannte keiner alle Gründe für diese Bedenken. Dazu hätte es eines Buches wie diesem bedurft.

10.3 Auf dem Abstellgeleise im Sackbahnhof angelangt
10.3.1 Keine Bereitschaft der leitenden Körperschaft vorhanden sich Zweifelsfragen zu stellen. Dogmatismus, wo Bereitschaft zum Überprüfen notwendig wäre.

Ich war mir aber völlig sicher, daß es zahlreiche andere Zeugen Jehovas gab, die viele meiner Bedenken teilten.[17] Was ich in der leitenden Körperschaft erlebt hatte, gab keinen Anlaßzu der Annahme, daß man sich diesen Bedenken zu stellen gewillt war, geschweige denn ihnen die gebührende Aufmerksamkeit widmen würde, indem man in der Bibel sorgfältig nach­forschte und dann auf der Grundlage dessen, was man dabei fand oder nicht fand, eine Entscheidung traf, und nicht einfach nur auf der Grundlage der eingefahrenen traditionellen Ansichten.

Meine Erfahrungen ließen vielmehr erwarten, daß man jede offene Diskus­sion solcher Probleme für äußerst gefährlich halten und als Zeichen der Illoyalität gegenüber der Organisation auslegen würde. Man hielt augenscheinlich die Einheit (besser Gleichförmigkeit) für wichtiger als die Wahrheit. Fragen der Lehre konnte man wohl im inneren Führungszirkel der leitenden Körperschaft diskutieren, doch nirgendwo sonst. Und wenn die Debatte im engen Kreis auch noch so hitzig war, nach außen mußte der Schein der Einmütigkeit gewahrt werden, selbst wenn dabei schwere Differenzen unter den Teppich gekehrt wurden.

In der Heiligen Schrift fand ich nichts, womit diese Verstellung zu rechtfer­tigen gewesen wäre, denn der Beweis für ihre Echtheit lag ja gerade in ihrer Freimütigkeit, Offenheit und Ehrlichkeit. Differenzen unter den ersten Christen wurden offen zugegeben, auch bei den Ältesten und Aposteln. Und was noch wichtiger war, in der Bibel gab es keinen Hinweis darauf, daß Diskussionen sich auf einen so begrenzten, nach außen abgeschirmten Kreis von Männern beschränken müßten, deren geheime Zweidrittelbe­schlüsse von allen Christen als „geoffenbarte Wahrheit“ zu akzeptieren seien. Die Wahrheit brauchte meiner Ansicht nach keine offene Diskussion zu fürchten und sich auch der sorgfältigen Nachforschung nicht zu entzie­hen. Wenn eine Lehre dagegen abgeschirmt werden müßte, verdiente sie es auch nicht, aufrechterhalten zu werden.

10.3.2 Eduard Dunlop, der Registrator der Gileadschule mit tiefster Erkenntnis der biblischen Zusammenhänge

Seit meiner Arbeit an dem Nachschlagewerk Hilfe zum Verständnis der [226] Bibel hatte ich einen engen Kontakt mit Edward Dunlap. Ich lernte ihn 1964 kennen, als ich einen zehnmonatigen Kursus an der Gileadschule absol­vierte. Er war damals Registrator der Schule und zugleich einer der vier Dozenten. Unsere Klasse (die 39.) umfaßte etwa 100 Personen, fast alle waren Mitarbeiter von Zweigbüros. Man kann wohl sagen, daß sein Unter­richt nach Meinung der Mehrzahl der Teilnehmer bei weitem am meisten zu einem tieferen Verständnis der Bibel beitrug.[18] Ed stammte aus Okla­homa und war von einer etwas urwüchsigen Erscheinung. Er hatte nur einfache Schulbildung, konnte aber meisterhaft die schwierigsten und kompliziertesten Sachverhalte in verständlicher Sprache erklären, ob es sich dabei nun um die Anwendung des mosaischen Gesetzes oder Forschun­gen auf dem Gebiet der Genetik handelte. Noch wichtiger für mich war aber seine einfache, schlichte Wesensart. Sieht man einmal von seiner Vorliebe für grelle bunte Krawatten ab, war er im Kern ein zurückhaltender, unauffälliger Mensch, was Aussehen, Verhalten und Redeweise anging. Ganz gleich, mit wieviel Verantwortung die Aufgabe verbunden war, die ihm aufgetragen war, er blieb stets derselbe.

Seine Persönlichkeit spiegelte sich meines Erachtens sehr gut in einer Äußerung, die er mir gegenüber bei einer Semesterabschlussprüfung machte. Wir hatten im Unterricht die Briefe des Apostels Paulus bespro­chen, und jede Woche gab es einen Test über den behandelten Stoff. Im allgemeinen wurde dabei auch nach dem wahrscheinlichen Abfassungsort und -zeitpunkt gefragt. Das war kein Problem, solange es nur um einen einzigen Brief ging. Als aber die Abschlußprüfung bevorstand, wurde mir bewußt, daß jetzt alle 13 Briefe des Apostels Paulus auf einmal an der Reihe waren, und es war erheblich schwieriger, die Orte und Zeiten für sie alle im Kopf zu behalten. In der Bibel sind sie nicht chronologisch angeordnet. Ich mühte mich lange damit ab und erdachte mir schließlich ein System, wie ich mir alle merken konnte.

Die Prüfung kam, und wir hatten zwei Stunden Zeit, alle Fragen zu beantworten. Ich war etwas früher fertig, und als ich aus dem Raum ging, begegnete ich Ed. Erfragte: „Na, wie war’s?“ Ich antwortete: „Ach, gar nicht so schlimm. Aber eines werde ich dir nie vergessen.“ Er wollte wissen, was ich damit meinte. Darauf sagte ich: „Ich habe mich wie wahnsinnig angestrengt, ein System zu entwickeln, wie ich Zeit und Ort der Nieder­schrift für jeden Brief im Gedächtnis behalten kann, und dann stellst du nicht eine einzige Frage darüber!“ Er nahm meine Antwort ernster, als sie gemeint war, und erwiderte: „Weißt du, warum ich darüber keine Fragen in der Abschlußprüfung stelle? Ich kann mir das selber alles nicht merken.“ Es gab an der Schule vier Dozenten: Ulysses Glass, Bill Wilkinson, Fred Rusk und Ed Dunlap. Man tut wohl keinem Unrecht, wenn man sagt, daß nur von [227] Ed eine solche Antwort hätte kommen können. Sie war typisch für seine bescheidene Art.

Er war der Organisation stets voll und ganz ergeben und hatte ebensolange wie ich im Vollzeitdienst gestanden. Und noch etwas anderes zeigt, was für ein Mensch er war: Ende der sechziger Jahre zog er sich eine Entzündung des großen dreigeteilten Gesichtsnervs zu, von den Medizinern Trigeminus­neuralgie genannt, eine der schmerzhaftesten Erkrankungen beim Men­schen überhaupt. Jeder kleine Windhauch, jede leichte Berührung, die den Nerv erregte, konnte die stechenden, fast blindmachenden Schmerzen auslösen. Verschlimmert sich das Leiden, kann das Opfer sich nicht einmal die Haare kämmen, die Zähne putzen oder essen, ohne dabei einen Anfall zu riskieren. Manche werden davon zum Selbstmord getrieben.

Ed litt darunter sieben Jahre. Manchmal besserte sich sein Zustand, dann wurde es wieder schlimmer. Während dieser Zeit gelangte Nathan Knorr, der Präsident, irgendwie zu der Auffassung (möglicherweise aufgrund von Bemerkungen Dritter), es handle sich gar nicht um ein körperliches Leiden, sondern mit Eds Gefühlsleben stimme etwas nicht. So kam er einmal zu ihm und unterhielt sich mit Ed, um ihn über sein Eheleben auszuforschen und über andere Dinge, die mit der Krankheit zusammenhingen. Ed versicherte ihm, dies alles habe mit seiner Krankheit absolut gar nichts zu tun; im Urlaub könne es ihm glänzend gehen und doch kämen dann plötzlich die Anfälle. Diesen Erklärungen zum Trotz teilte der Präsident ihm mit, er habe beschlossen, ihn für eine Weile in der Druckerei arbeiten zu lassen, damit er mehr körperliche Betätigung habe. Er solle in die Buchbinderei gehen.

Ed war damals über sechzig; seit einiger Zeit schon stand er unter starken Medikamenten, die ihm der Betriebsarzt verschrieben hatte, um die schmerzhaften Anfälle zu unterdrücken. Tage- und wochenlang mußte er wegen seines Leidens das Bett hüten. Und jetzt wurde er in die Buchbinderei versetzt, wo er am Fließband stand und ununterbrochen Material in eine Maschine eingeben mußte. Er tat das mehrere Monate hindurch ohne Widerrede und bemühte sich, das Beste aus seiner „theokratischen“ Zutei­lung zu machen. Wie er mir aber anvertraute, kam ihm dabei zum ersten Mal so richtig zu Bewußtsein, welche absolute Herrschaft die Organisation über sein Leben ausübte. Seine Versuche, die Krankheit näher zu erklären, wurden einfach übergangen, und dann wurde ihm ohne das geringste Mitgefühl genau der Arbeitsplatz zugewiesen, der für jemand mit seinem Leiden am ungeeignetsten war.

Ein paar Jahre später, als er schon fast völlig verzweifelt war, hörte er von einem Neurochirurgen in Pittsburgh, der glaubte, die Ursache dieses uralten Leidens gefunden zu haben, und der in der Mikrochirurgie so weit vorange­kommen war, daß er Abhilfe schaffen konnte. Ed ließ den operativen Eingriff vornehmen. Dazu mußte der Schädel teilweise geöffnet werden, um an die Arterie zu gelangen, die parallel zu dem entzündeten Nerv verlauft. Das führte endlich zu seiner Heilung. Er erwartete nicht, daß die Organisation [228] sich für den schweren Irrtum bei der Einschätzung seiner Krankheit und für die Behandlung, die er erfahren hatte, bei ihm entschuldigte. Sie tat es auch nicht.

Unsere Arbeitsplätze lagen all die Jahre hindurch, sowohl bei der Arbeit am Hilfe-Buch wie auch später, fast unmittelbar nebeneinander, und so unter­hielten wir uns regelmäßig. Jeder ließ den andern teilhaben an dem Interessanten, auf das er bei seinen Nachforschungen gestoßen war. Bei verschiedenen Buchprojekten hatten wir von der leitenden Körperschaft den Auftrag, sie gemeinsam zu erarbeiten, wie zum Beispiel beim Kommen­tar zum Jakobusbrief. Wir stimmten nicht in allem überein, doch tat das unserer Freundschaft und unserer gegenseitigen Achtung keinen Abbruch. Ich erwähne dies alles, weil Edward Dunlap zu den wenigen gehörte, die meine schweren Bedenken hinsichtlich der Organisation und besonders der Abläufe in der leitenden Körperschaft kannte. Er dachte darüber genauso. Wie auch ich konnte er das, was er sah, hörte und las, nicht mit der Bibel in Einklang bringen.

10.3.3 Himmlische oder irdische Hoffnung? Veränderte „Erkenntnis“ oder Neuauflagen alter Lügen die bei Hymenäus begannen?

Obwohl er der Organisation schon seit Anfang der dreißiger Jahre angehörte, zählte er sich fast die ganze Zeit hindurch nicht zu den „Gesalbten“. Ende der siebziger Jahre sprach ich ihn einmal daraufhin an, und er erzählte, im Wachtturm habe damals, als er neu dabei war, gestanden, es gebe zwei Klassen, die himmlisches Leben erhalten würden, die „Erwählten“ (die 144000) und die „große Schar“ (oder „große Volksmenge“ aus Offenbarung, Kapitel 7). Von der „großen Schar“ hieß es, das seien Christen mit geringe­rem Glauben als die „Erwählten“, die darum zwar auch himmlisches Leben erhalten, doch nicht zu denen gehören würden, die mit Christus als Könige und Priester herrschen sollten. Da die eine Klasse einen höheren Rang hatte als die andere, dachte Ed, wie es für ihn typisch war, er gehöre der niederen Klasse an, der „großen Schar“.

Dann kam das Jahr 1935, und auf dem Kongreß in Washington verkündete Richter Rutherford die „geoffenbarte Wahrheit“, daß nach der Bibel die „große Schar“ nicht zu himmlischem, sondern zu irdischem Leben bestimmt sei. Ed sagte, er habe immer die Hoffnung auf ein Leben im Himmel gehabt und geglaubt, es könne nichts Herrlicheres geben, als in der Gegenwart Gottes gemeinsam mit seinem Sohn zu dienen. Da nun die Organisation aber ihre Lehre geändert hatte, unterdrückte er diese Hoffnung und gab sich mit dem zufrieden, was er als einer aus der „großen Schar“ erhoffen sollte.

Erst im Jahr 1979 rang er sich zu dem klaren Entschluß durch, daß keine menschliche Organisation die Einladung der Heiligen Schrift ändern konnte, indem sie ein Jahr festlegte, von dem ab eine Hoffnung nicht mehr offenstehen sollte, die die Bibel jedem eröffnete, der sie ergreifen wollte, heiße er nun Tom, Dick, Harry oder Ed. So begann er 44 Jahre nach 1935, beim Abendmahl vom Brot und Wein zu nehmen, was bei Jehovas Zeugen nur die „Gesalbten“ tun.

Wenn gefragt wird, wie denn jemand weiß, ob er zur Gruppe der „Gesalbten“ [229] mit himmlischer Hoffnung gehört, so wird als Standardantwort auf die Worte des Apostels Paulus inRömer, Kapitel 8, Verse 16, 17, verwiesen:

„Der Geist selbst bezeugt mit unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind. Wenn wir also Kinder sind, sind wir auch Erben, nämlich Erben Gottes, doch Miterben mit Christus, vorausgesetzt, daß wir mitleiden, damit wir auch mitverherrlicht werden.“

Gemäß der offiziellen Lehre können nur die zu den 144 000 Gehörenden dieses Zeugnis des Geistes haben, und dieses sage ihnen, daß sie zu der ausgewählten Gruppe der 144000 gehören, die allein himmlisches Leben erhoffen können. Alle übrigen könnten sozusagen nur „voraussichtliche“ Kinder Gottes sein, und ihre Hoffnung müsse sich auf die Erde beschränken. Als Ed den Text im Zusammenhang las, vom Beginn des Kapitels an, wurde ihm klar, daß Paulus hier tatsächlich von zwei Gruppen sprach. Diese unterschieden sich jedoch nicht durch ihre Hoffnung auf zukünftiges himmlisches oder irdisches Leben.

10.3.4 Von welchem Geist lässt du dich leiten? „Alle, die durch Gottes Geist geleitet werden, diese sind Söhne Gottes“!

Bei den zwei Gruppen oder Klassen handelte es sich vielmehr einerseits um diejenigen, die sich vom Geist Gottes leiten ließen, und andererseits um die, die sich vom sündigen Fleisch beherrschen ließen.

Der Apostel hebt nicht den Gegensatz zwischen Leben im Himmel und Leben auf der Erde hervor, sondern den zwischen Leben und Tod überhaupt, zwischen Freundschaft mit Gott und Feindschaft mit Gott. In den Versen 6 bis 9 heißt es hierzu:

„Denn das Sinnen des Fleisches bedeutet Tod, das Sinnen des Geistes aber bedeutet Leben und Frieden, weil das Sinnen des Fleisches Feindschaft mit Gott bedeutet, denn es ist dem Gesetz Gottes nicht untertan und kann es tatsächlich auch nicht sein, So können denn die, die mit dem Fleisch in Übereinstimmung sind, Gott nicht gefallen. Ihr dagegen seid nicht in Übereinstimmung mit dem Fleisch, sondern mit dem Geist, wenn Gottes Geist wirklich in euch wohnt. Wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, so gehört dieser ihm nicht an.“

In diesem Text ging es Paulus nicht um das Problem von himmlischem oder irdischem Leben, sondern einfach darum, ob jemand gemäß dem Geist Gottes lebte oder sich vom sündigen Fleisch leiten ließ. Paulus stellte klar, daß es nur eines gab: Entweder hatte man Gottes Geist und brachte dessen Früchte hervor, oder man stand in Feindschaft zu Gott und gehörte Christus nicht an. Ohne diesen Geist konnte es „Leben und Frieden“ nicht geben, nur den Tod. Hatte aber jemand den Geist Gottes, so war er ein Sohn Gottes, denn Paulus sagt (Vers 14):

„Denn alle, die durch Gottes Geist geleitet werden, diese sind Söhne Gottes.“ [19] [230]

Dabei fiel Ed auf, daß Paulus nicht sagt, einige, sondern „ALLE, die durch Gottes Geist geleitet werden“, sind seine Söhne, seine Kinder. Wer durch den Geist geleitet wird, dem „bezeugt“ der Geist dies, wozu auch dessen Wirken in ihrem Leben zahlt, so wie es von Abel, Henoch, Noah und anderen in der Bibel ganz ähnlich heißt, sie „erlangten Zeugnis“, daß sie Gott wohlgefielen.[20]

Von welcher Tragweite dies alles war, wird sich im Verlauf der Schilderung der weiteren Ereignisse zeigen.

An dieser Stelle möchte ich nur noch anfügen, daß Ed meine hauptsächli­chen Bedenken teilte, besonders was den Dogmatismus und den autoritären Geist betraf, der in allem sichtbar wurde. Wie ich war er der Ansicht, daß die menschliche Autorität, sobald sie ihre Grenzen überschreitet, unweigerlich die Rolle Christi als Haupt der Versammlung überdeckt.

10.3.5 Rene Vasquez, Mitarbeiter der Dienstabteilung im Bereich spanischsprechende Versammlungen

Kurz nach meiner Rückkehr aus Afrika besuchte uns ein alter Freund in unserem Privatzimmer im Wohntrakt der Weltzentrale. Er hieß Rene Vazquez und war mir seit etwa 30 Jahren bekannt. Kennengelernt hatte ich ihn auf Puerto Rico in der Stadt Mayaguez, wo er bei seinem Vater und dessen zweiter Frau wohnte. Rene war damals noch ein Schüler. Sowohl sein Vater wie auch dessen Frau waren strikt dagegen, daß er mit Jehovas Zeugen die Bibel studierte. Ihr Widerstand wurde so heftig, daß Rene eines Abends nach seinem Bibelstudium, das bei Missionaren der Zeugen daheim abgehalten wurde, meinte, es nicht länger ertragen zu können. So übernach­tete er im Freien auf einer Parkbank. Tags darauf suchte er seinen Onkel und seine Tante auf und fragte sie, ob er zu ihnen ziehen dürfe. Sie erklärten sich einverstanden, und wenn sie auch nicht viel von den Zeugen Jehovas hielten, so waren sie doch tolerant. Nach seinem Schulabschluß nahm Rene sofort den Vollzeit- oder „Pionier-„Dienst auf.
Im Jahr 1953 besuchte er einen Kongreß in New York, worauf er sich einschloß, in den USA zu bleiben. In Michigan lernte er ein junges Mädchen kennen, heiratete und war mit ihr gemeinsam im Pionierdienst tätig. Sie wurden gebeten, als reisende Beauftragte der Gesellschaft die spanischspre­chenden Versammlungen im Westen der USA reihum zu besuchen. Später absolvierten sie die Gileadschule und wurden dann nach Spanien gesandt. Dort wurde Rene bald zum Bezirksaufseher ernannt. Offiziell war das Werk der Zeugen im Land verboten, und so mußten er und seine Frau Elsie bei ihren Reisen kreuz und quer durch Spanien ständig Angst haben, von der Polizei entdeckt, verhaftet und deportiert zu werden. Alle Versammlungen fanden heimlich statt. Nach jahrelanger Untergrundtätigkeit war Rene eines Tages mit den Nerven am Ende. Elsie und er waren inzwischen sieben Jahre in Spanien. Da seine Gesundheit angegriffen war, und weil Elsies Familie Beistand brauchte, kehrten sie in die USA zurück, mußten aber das Geld für die Reise selbst aufbringen, so daß sie bei ihrer Ankunft ohne einen roten Heller dastanden. [231]

Die einzige Arbeit, die Rene nun finden konnte, war in einem Stahlwerk, wo er schwere Lasten heben mußte. Da er sehr schmächtig gebaut war, brach er gleich am zweiten Tag zusammen und mußte ins Krankenhaus eingeliefert werden. Er fand später eine andere Arbeit, und sobald sie ihre Schulden bezahlt hatten, gingen seine Frau und er wieder in den Pionierdienst. Im Laufe der Zeit wurde er Kreis- und Bezirksaufseher, und schließlich erhiel­ten sie eine Einladung zur Mitarbeit in der Weltzentrale in Brooklyn. Dort leitete Rene den Bereich der Dienstabteilung, von dem aus die spanischspre­chenden Gemeinden in den USA betreut wurden, in denen es ungefähr 30 000 Zeugen gab. Diese Stellung hatte er inne bis 1969; dann wurde Elsie schwanger, und das bedeutete für sie, daß sie ihren „Betheldienst“ auf­geben mußten.

Rene sagte mir damals, er wolle in New York bleiben, und zwar nicht, weil er die Stadt so sehr mochte, sondern weil er hoffte, dann irgendwann, sobald seine Umstände es gestatteten, wieder etwas für die Weltzentrale tun zu können. Nach ein paar Jahren arbeitete er zwei Tage pro Woche unentgelt­lich als Aushilfe wieder mit, übersetzte ins Spanische, führte Regie bei den Tonaufnahmen für die Kongreß-Bühnenstücke in Spanisch und machte in den zahlreichen spanischsprechenden Gemeinden in und um New York Kurzbesuche als Kreisaufseher. Früher war er eine Zeitlang in Portugal gewesen, und als in New York portugiesische Gruppen entstanden, frischte er seine Sprachkenntnisse auf und kümmerte sich auch um diese.

Ich glaube nicht, daß es in Renes über 30jähriger Tätigkeit in der Organisa­tion für irgend jemand in Puerto Rico, Spanien oder den USA je einen Grund gab, etwas an seinem Dienst zu bemängeln. Er war von Natur aus sanft, doch zugleich bestimmt, Er beherrschte die Kunst, fest zu bleiben und dabei doch nie hart zu sein. Dieser Beurteilung dürfte meines Erachtens niemand, der mit Rene Vazquez je zu tun hatte, widersprechen können, auch wenn heute seine Situation eine ganz andere ist, wie gleich zu berichten sein wird. Wenn er einen Fehler hatte, dann- wie er selber zugibt – den, daß er zu gutmütig war und keine Bitten abschlagen konnte, besonders von Seiten der Wacht­turm-Gesellschaft. Heute erkennt er, daß seine Familie darunter unnötig leiden mußte.

So hatten er und seine Frau beispielsweise jahrelang keinen richtigen Urlaub mehr gehabt und gerade alles für eine Reise nach Spanien vorberei­tet. Kurz vor der Abfahrt rief Harley Miller, der damalige Leiter der Dienstabteilung, an und bat Rene, während dieser Zeit im Kreisdienst tätig zu sein. Eine Zuteilung der „Organisation des Herrn“ hatte Rene nie abgelehnt, und so willigte er ein. Seine Frau fuhr dann mit ihrer Mutter nach Spanien.

Rene wohnte nicht weit vom Flughafen La Guardia, und Mitarbeiter der Dienstabteilung. unter ihnen Harle Miller, riefen ihn gewohnheitsmäßig an, um ihn zu bitten, sie vom Flughafen abzuholen und ins Bethel zurückzu­fahren, wenn sie am Wochenende von einer Vortragsreise mit dem Flugzeug eintrafen. Manchmal kamen die Maschinen um Mitternacht oder noch[232] später an. Für mich wollte Rene das ebenso tun, er bestand sogar darauf, und ich nahm sein Angebot an, bis ich erfuhr, in welchem Ausmaß man seine Hilfsbereitschaft ausnutzte. Für meine Begriffe ging das entschieden zu weit, und darum bemühte ich mich von da an – von seltenen Ausnahmen abgesehen – um andere Transportmöglichkeiten.

10.4 Eine Verschwörung oder eher Frustration einer kleinen Minderheit angesichts einer verkalkten, veränderungsscheuen Elite?
10.4.1 Drei Rädelsführer einer Verschwörung: Ray Franz, Ed Dunlop und Rene Vasques?, oder einfach Männer mit etwas mehr Charakterstärke dem Gewissen zu gehorchen?

Ich glaube, wenn man die leitende Körperschaft befragen könnte, wen sie als die Rädelsführer der „Verschwörung gegen die Organisation“, gegen die sie mit so massiven Mitteln vorging, bezeichnen würde, so kämen dabei wir drei heraus: Ed, Rene und ich. Dabei waren wir drei nie auch nur ein einziges Mal zusammen. Mit Rene habe ich mich in der fraglichen Zeit vielleicht zweimal länger unterhalten. Bei Ed und Rene war es genauso. Und welcher angeblich so schlimmen Missetaten haben wir uns schuldig gemacht? Ganz einfach: Wir haben miteinander und mit engen Freunden über die Bibel gesprochen.

An dem Abend, als Rene zu uns aufs Zimmer kam, nahm er gerade an einem Schulungskurs der Gesellschaft für Älteste teil. Wir unterhielten uns über seine Eindrücke, die im großen und ganzen gut waren. Dann aber sagte er:
„Mir kommt es fast so vor, als ob wir Zahlen anbeten. Manchmal wünschte ich, wir könnten die Berichte ganz abschaffen.“ Mit Berichten meinte er das Verfahren, daß jeder Zeuge regelmäßig zu Ende des Monats einen Vordruck ausfüllt, in dem seine „Zeugnistätigkeit“ erfaßt wird: wieviele Stunden er eingesetzt, wieviele Schriften er verbreitet hat, und weiteres mehr.[21]

Mir kamen dabei Gedanken aus dem Programm des letzten Bezirkskongres­ses über „Glaube und Werke“ in den Sinn, die ich ins Gespräch brachte, und ebenso die Worte des Apostels Paulus dazu im Römerbrief. Ich war der Meinung, daß Paulus hier vor allem dazu aufforderte, die Menschen im Glauben stark zu machen; danach würden sich die Werke von allein ergeben, weil echter Glaube tätig ist und Werke hervorbringt, genau wie das auch bei echter Liebe der Fall ist. Man kann Menschen ständig drängen, Werke zu tun, und unter Druck mögen sie dem auch folgen. Doch wie weiß man, daß diese Werke aus Glaube und Liebe getan wurden? Und wenn das nicht der Fall ist, wie können sie dann überhaupt noch Gott angenehm sein? Das führte zu der logischen Folgerung, daß sieh Werke des Glaubens spontan ergeben mußten. Sie durften nicht aus Routine getan werden und an eine bestimmte Form gebunden sein, so wie auch Taten der Liebe spontan sein und nicht lediglich als Pflichtübung absolviert werden sollten, [233] für die andere den Rahmen abgesteckt haben, Organisatorische Hilfen sind nicht verkehrt, doch sollten sie der Vereinfachung dienen und nicht unterschwellig Druckmittel sein, um denen, die sie nicht nutzten, Schuld­gefühle einzupflanzen. Je mehr man versucht, Mitchristen Vorschriften über ihre Handlungen zu machen, desto mehr nimmt man ihnen in Wahrheit die Möglichkeit, sich von Glaube und Liebe antreiben zu lassen. Ich gab zu, daß es erheblich schwieriger und mühseliger ist, den Glauben und die Wertschätzung der Menschen durch die Bibel zu stärken, als anfeuernde Reden zu halten oder anderen Schuldgefühle einzupflanzen. Doch der schwerere Weg war meiner Ansicht nach der einzig schriftgemäße und angebrachte.

Das war es im wesentlichen, was wir besprachen. Die Berichtszettel waren zwar der Auslöser, kamen dann aber gar nicht mehr vor. Als ich Rene einige Zeit darauf auf einem Gang im Bürogebäude traf, erzählte er mir, daß ihm seine Tätigkeit im Kreis- und Bezirksdienst vielmehr Freude mache, seit er alles im Lichte der Worte des Apostels im Römerbrief sehe; auch seine Gespräche mit Ältesten würden dadurch gehaltvoller.

10.4.2 Ein offenes, privates Gespräch und Lauscher als Denunzianten

Ein paar Wochen später waren meine Frau und ich bei ihnen zum Essen eingeladen. In unseren ersten Jahren in New York waren wir vier in dieselbe spanische Versammlung in Queens gegangen, hatten uns aber seither selten gesehen. Vor dem Essen und auch hinterher wollte Rene sich über Haupt­punkte des Römerbriefs unterhalten. Ich fühlte mich ihm gegenüber ver­pflichtet – wenn auch nicht in demselben Maß wie gegenüber meiner Frau –, offen auf seine Fragen einzugehen und nicht auszuweichen. Wir kannten uns seit 30 Jahren, und ich wußte, daß er aufrichtig um ein Verständnis der Bibel bemüht war. Ich sprach mit ihm als Freund, nicht als offizieller Vertreter der Organisation, und wenn ich mit ihm über Gottes Wort sprach, so war ich dafür vor allem Gott verantwortlich, nicht Menschen oder einer Organisation. Hätte ich mich davon zurückgehalten, mit jemand wie ihm über klare biblische Lehren zu sprechen, wie könnte ich dann noch das sagen, was Paulus gemäß Apostelgeschichte, Kapitel 20, Verse 26, 27, zu den Ältesten in Ephesus sagte:

„Darum rufe ich euch am heutigen Tag auf, zu bezeugen, daß ich rein bin vom Blut aller Menschen, denn ich habe nicht zurückgehalten, euch den ganzen Rat Gottes mitzuteilen.“

Paulus wußte, daß man deswegen in der Synagoge von Ephesus schlecht von ihm sprach.[22] Daß meine Äußerungen ähnliche Folgen haben könnten, war mir ebenfalls klar.

Unter anderem unterhielten wir uns über den ersten Abschnitt des achten Kapitels des Römerbriefes, von dem hier bereits die Rede war. Ich wollte wissen, wie er Vers 14 verstehen würde, wo von der Vater-Sohn-Beziehung zu Gott gesprochen wird, wenn er dabei den Textzusammenhang beachtete. [234]

Er hatte diesen Text nie im Zusammenhang untersucht (was wohl auf praktisch alle Zeugen Jehovas zutrifft), und als er das nun tat, war seine spontane Reaktion bewegend. Was für andere Menschen offensichtlich ist, kann einen Zeugen Jehovas packen wie eine Offenbarung. Rene sagte: „Jahrelang war mir, als ob ich dem heiligen Geist widerstand, wenn ich die Christlichen Griechischen Schriften (das Neue Testament) las. Immer bezog ich die Worte auf mich, hielt dann aber plötzlich inne und sagte zu mir: ,Das hat ja auf dich gar keine Anwendung; diese Worte gelten doch nur den Gesalbten.'“

Wir beide und Gott wissen, daß ich ihn nicht beeinflußt habe, die Sache in neuem Licht zu sehen. Das bewirkten die Worte des Apostels von alleine, sobald sie erst im Zusammenhang gelesen wurden. Als ich ihm später zufällig kurz begegnete, sagte er, für ihn sei von da an die Bibel insgesamt lebendig geworden und habe eine viel tiefere Bedeutung gewonnen.

So seltsam es sich anhören mag, aber wenn ein Zeuge Jehovas (der keiner der rund 9000 „Gesalbten“ ist) zu dem Schluß kommt, daß die Worte der Bibel von Matthäus bis zur Offenbarung tatsächlich an ihn persönlich gerichtet und direkt auf ihn anzuwenden sind, und das nicht nur „im erweiterten Sinne“, dann wird damit der Weg frei zu einer Flut von weiteren Fragen, Fragen, die schon lange gärten, die aber keiner zu stellen wagte.

Wenn ich mir anschaue, mit wie viel Aufwand in der letzten Zeit die Bibel und die Tatsachen hingebogen werden, damit die Interpretationen der Organisation aufrechterhalten werden können, dann bin ich froh, daß ich mich nicht von der Angst um die Anerkennung einer Organisation davon zurückhalten ließ, wenigstens einige Menschen in dieser Frage auf die Sicht der Bibel aufmerksam gemacht zu haben.

Am 4. März 1980 reichte ich ein Urlaubsgesuch beim Personal-Komitee der leitenden Körperschaft für die Zeit vom 24. März bis zum 24. Juli ein. Meine Frau und ich waren der Ansicht, daß wir wegen unseres Gesundheitszustan­des eine längere Ortsveränderung brauchten. Während dieser Zeit wollte ich mich auch nach Arbeit und Wohnung umtun für den Fall, daß wir unsere Tätigkeit in der Weltzentrale aufgeben sollten. Wir besaßen rund 600 Dollar auf dem Sparbuch und ein sieben Jahre altes Auto; das war unser ganzes Vermögen.

Als erstes ließen wir uns gründlich ärztlich untersuchen. Dabei stellte sich heraus, daß bei mir ein erhöhtes Herzinfarktrisiko bestand.

10.4.3 Einladung zu Peter Gregerson nach Alabama: Zweifel an 1914 und an 1975

Auf Bezirkskongressen im Bundesstaat Alabama hatten wir vor einigen Jahren einen Zeugen Jehovas namens Peter Gregerson kennengelernt. Seither hatte er uns mehrfach eingeladen, in der Versammlung Gadsden in Alabama Vorträge zu halten. Peter Gregerson hatte sich im Bereich Alabama und Georgia eine kleine Supermarktkette aufgebaut. Als meine Frau und ich bei einer Zonenreise auch nach Israel kamen, begleiteten Gregerson und seine Frau uns, und wir bereisten das Land der Bibel zwei Wochen lang gemeinsam.

Peter Gregerson hatte sich damals sehr besorgt darüber geäußert, welche [235] Folgen die Voraussagen (oder waren es nur „Andeutungen“?) über 1975 gehabt hatten. Seiner Meinung nach wäre es ein schwerer Fehler, wenn die Gesellschaft weiterhin auf dem Jahr 1914 so lautstark beharren würde. Die Enttäuschung nach 1975 wäre gar nichts im Vergleich zu der, die es geben würde, wenn man von 1914 abrücken müsse. Darin gab ich ihm recht, doch mehr wurde über das Thema nicht gesprochen.

Als er von unseren Urlaubsplänen horte, drängte er uns, eine Zeitlang bei ihnen zu wohnen. Er richtete einen Wohnwagen für uns her, der einem seiner Söhne gehörte, und bot mir an, ich könne sein Grundstück pflegen, so daß wir einen Teil unserer Unkosten abdecken und ich mich dabei zugleich körperlich betätigen könnte, wie es der Arzt empfohlen hatte.

Peter Gregerson war schon von Kindesbeinen an bei den Zeugen Jehovas. Seine Eltern hatten ihn zu den Versammlungen mitgenommen, seit er vier Jahre alt war; kurz vorher waren sie zu den Zeugen Jehovas gestoßen. Als junger Mann war er Vollzeit-Pionierprediger“ geworden, und selbst nach Heirat und Ankunft des ersten Kindes hatte er darum gerungen, im Vollzeitdienst zu bleiben, und sieh seinen Lebensunterhalt durch Hausmei­stertätigkeit verdient.[23] Die Gesellschaft hatte ihn in sogenannte Problem­gebiete in Illinois und Iowa geschickt, wo er Mißstände beheben und mehrere Gemeinden geistig stärken sollte. Im Jahr 1976 wurde er als einer der Vertreter der Ältesten nach Brooklyn zu Gesprächen mit der leitenden Körperschaft eingeladen, und ein paar Jahre später bat man ihn, einen Schulungskurs für Älteste in Alabama zu leiten.

10.4.4 Rücktritt Peter Gregersons vom Ältestenamt

Ein Jahr nach diesem Kurs faßte er aber den Entschluß, von seinem Ältestenamt in der Gemeinde zurückzutreten. Kurz vorher hatte er die Geschäftsleitung seiner Lebensmittelfilialkette an einen seiner Brüder übergeben und die freie Zeit für ein intensiveres Studium der Bibel einge­setzt. Einige Lehren der Organisation ließen ihm keine Ruhe, und er wollte ganz sicher gehen, daß sie wirklich stimmten, um so den Glauben zu erneuern, dem er sein ganzes Leben lang angehangen hatte. (Er war jetzt Anfang fünfzig.)

Es kam genau das Gegenteil dabei heraus. Je mehr er in der Bibel forschte, desto überzeugter wurde er, daß die theologischen Grundlagen der Organi­sation schwere Fehler enthielten. Darum entschied er sich gegen sein Ältestenamt. Mündlich formulierte er es mir gegenüber einmal so: „Ich kann mich einfach nicht mehr vor die Leute hinstellen und Zusammen­künfte leiten, in denen Dinge gelehrt werden, für die ich keine Grundlage in der Bibel entdecken kann. Da würde ich mir wie ein Heuchler vorkommen, und das läßt mein Gewissen nicht zu.“ Zwar hatte ich ihm empfohlen, seine Entscheidung zu überdenken, als ich davon erstmals erfuhr, doch ich konnte nicht leugnen, daß seine Fragen zu Recht bestanden. So respektierte ich seine Gewissensentscheidung und seinen Widerwillen gegen jede Form der Heuchelei. Er hatte den Scheideweg vor mir erreicht. [236]

Dies war der Mann, den die Organisation später als „Übeltäter“ einstufte, mit dem man nicht einmal essen durfte, und die Tatsache, daß ich 1981 mit ihm in einem Restaurant essen ging, führte zu meinem Rechtsverfahren und zum Ausschluß aus der Organisation.

Während wir uns in Gadsden erholten, im April 1980, hörte ich zum ersten Mal von Vorgängen in Brooklyn, die mir eigenartig vorkamen. Der erwartete Sturm war über uns hereingebrochen.

10.5 Inquisition *
10.5.1 Den Fallen der Pharisäer und Schriftgelehrten auszuweichen lernen: Geheime Ketzergerichte wie zur Inquisitionszeit!

„Als Jesus das Haus verlassen hatte, begannen die Schriftgelehr­ten und die Pharisäer, ihn mit vielerlei Fragen hartnäckig zu bedrängen; sie versuchten, ihm eine Falle zu stellen, damit er sich in seinen eigenen Worten verfange“ (Lukas 11:53, 54, Einheits­übersetzung).

Unter Inquisition versteht man dem Wortsinn nach eine Untersuchung, eine Ausforschung der Überzeugung und Ansichten eines Menschen.

Ziel der Inquisition im Mittelalter war es nicht, dem einzelnen beizustehen oder eine Grundlage für ein Gespräch mit ihm zu schaffen, sondern ihn als Ketzer zu überführen.

Zur Einleitung eines Verfahrens ist es nicht nötig, daß jemand Spaltungen hervorruft, heimtückische Handlungen begeht oder seine Auffassungen lautstark verkündet. Als Auslöser genügt bereits der bloße Verdacht. Irgendwelche Rechte billigt man dem Verdächtigten dabei praktisch keine zu; die Inquisitoren halten sich für vollauf berechtigt, auch die privatesten Dinge, wie Gespräche mit engsten Freunden, auszuforschen. Was die spanische Inquisition so verrufen machte, waren nicht allein die grausamen Methoden der Bestrafung, sondern in gleichem Maße die autori­täre Haltung und die selbstherrlichen Verhörmethoden, mit denen die Ketzergerichte die gewünschten Geständnisse herauspreßten. Die Folter und die grausamen Bestrafungen von damals sind heute verboten, doch die autoritäre Grundhaltung und die arroganten Verhörmethoden kann man sich offenkundig auch heute noch leisten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Hier werde ich an einen Artikel in Erwachet! vom 22. April 1981 erinnert, der den Titel trug: „Den Wurzeln des Gesetzes auf der Spur“. Darin wurde hervorgehoben, wie vorbildlich das Mosaische Gesetz war. Unter anderem war zu lesen:

„Da das Gericht jeweils an den Stadttoren tagte, besteht keine Frage, daß es sich um ein öffentliches Verfahren handelte (5. Mose 16:18-20). Zweifellos beeinflußten die öffent­lichen Verfahren die Richter im Sinne der Sorgfalt und Gerechtigkeit – Merkmale, die bei Sitzungen unter Aus­schluß der Öffentlichkeit manchmal fehlen.“ [237]

Dieser Grundsatz wurde von der Gesellschaft in ihrer Zeitschrift in höch­sten Tönen gelobt. In der Praxis aber lehnte sie ihn vollständig ab. Es ist genau, wie Jesus sagte: „Sie selber tun gar nicht, was sie lehren.“[24] Die Fakten belegen, daß ihr „Sitzungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit“ lieber sind. So handelt nur, wer die Macht der Wahrheit fürchtet. Damit dient man nicht den Interessen von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, sondern der Sache der Ankläger.

10.5.2 Verhör über persönliche Ansichten von Ed Dunlop durch Mitglieder der leitenden Körperschaft

Vier Wochen nach Antritt meines Erholungsurlaubs rief mich Ed Dunlap in Alabama an. Erst sprachen wir über allgemeines, und dann erzählte er mir, zwei Mitglieder der leitenden Körperschaft, nämlich Lloyd Barry und Jack Barr, seien in sein Büro gekommen und hätten ihn drei Stunden lang über seine persönlichen Ansichten ausgehorcht. Zwischendurch habe er sie gefragt: „Und was soll dieses Verhör?“ Darauf hatten sie ihm versichert, es handle sich nicht um ein Verhör, sondern sie wollten nur einmal wissen, wie er über verschiedenes denke.

Er erhielt keinerlei Erklärung darüber, was der Anlag für diese Befragung war. Sie behaupteten zwar, das Gespräch diene nur ihrer Information, aber Ed hatte doch stark den Eindruck, daß dies der Beginn einer inquisitorischen Aktion der Organisation war, der irgendjemand zum Opfer fallen sollte. Unter anderem wollte man von ihm Genaueres über seine Ansichten zur Organisation, zu den Lehren über 1914, über die zwei Klassen von Christen und über die himmlische Hoffnung wissen.

Er sagte seinen Befragern, in Bezug auf die Organisation bereite ihm besondere Sorgen, daß die Mitglieder der leitenden Körperschaft so wenig Bibelstudium betrieben. Seiner Meinung nach hatten diese Brüder gegen­über allen anderen eine Verpflichtung, das Erforschen der Schrift zu ihrer wichtigsten Tätigkeit zu machen und sich nicht übermäßig mit Papierkram und anderen Dingen zu beschäftigen, so daß das Bibelstudium zu kurz komme. Über 1914, so sagte er freimütig, dürfe man nicht dogmatisch reden, und fragte sie, ob denn die leitende Körperschaft selbst dieses Datum für unverrückbar und absolut feststehend hielt. Darauf antworteten sie, daß wohl ein oder zwei Mitglieder Zweifel hätten, doch insgesamt stehe die leitende Körperschaft voll hinter diesem Datum. Er sagte ihnen, bei Gesprä­chen mit den Mitarbeitern in der Schreibabteilung würde man feststellen können, daß fast alle zu verschiedenen Themen unterschiedlicher Auffas­sung wären.

10.5.3 Ausfragen der Mitglieder der Schreibabteilung über abweichende Ideen

An einem anderen Tag begannen Albert Schroeder und Jack Barr, jeden in der Schreibabteilung einzeln auszufragen. Keiner gestand irgendwelche Unsicherheiten in bezug auf bestimmte Lehren ein, doch wenn man sich sonst mit ihnen unterhielt, gab es ausnahmslos bei jedem einen Punkt, zu dem er eine abweichende Ansicht hatte.

Das Ironische an der ganzen Sache war, daß die Meinungen innerhalb der [238] leitenden Körperschaft über viele Themen deutlich auseinandergingen. Doch davon erwähnten die Befrager nichts.

Mir war bekannt, daß Lyman Swingle sich auf Zonenreise befand. Er war Koordinator des Schreibkomitees der leitenden Körperschaft und zugleich auch Koordinator der Schreibabteilung, und daß so massive Nachforschun­gen in seiner Abwesenheit begonnen wurden, erschien mir befremdlich. Die Untersuchungsführer hatten keinerlei Hinweis darauf gegeben, daß etwas Außergewöhnliches vorgefallen sei, was eine derartig umfangreiche Unter­suchung erforderlich gemacht hätte. Das Fehlen jeglicher Erklärung für ihr Tun deutete nach meinen Erfahrungen mit der Organisation auf nichts Gutes hin, sondern ließ im Gegenteil für die Betroffenen das Schlimmste befürchten. Ich rief deshalb am Montag, den 21. April 1980, von Alabama aus in Brooklyn an und bat darum, mit Dan Sydlik von der leitenden Körperschaft zu sprechen. Der Mitarbeiter in der Telefonzentrale der Gesellschaft sagte mir, er sei nicht erreichbar. So bat ich darum, mit Albert Schroeder verbunden zu werden, der in dem Jahr Vorsitzender war, doch er war gleichermaßen nicht zu erreichen. Ich hinterließ dann bei der Vermitt­lung eine Nachricht, ich wäre dankbar, wenn mich einer der beiden anrufen würde.

Am nächsten Tag rief Albert Schroeder an.

Bevor ich auf das Gespräch und die Art und Weise eingehe, wie er in seiner Funktion als Vorsitzender der leitenden Körperschaft meine Fragen beant­wortete, möchte ich einen Überblick über die Ereignisse geben, die sich ­wie ich später erfuhr – bereits abgespielt hatten oder während des Gesprächs gerade stattfanden.

10.5.4 Humberto Godinez, der Denunziant, und wie Jesu Gebot umgangen wird Probleme friedlich zu lösen. Tonbandaufzeichnungen von Aussagen Dritter als Grundlage der Verfolgung.

Am 14. April, acht Tage vor Schroeders Rückruf, hatte ein Zeuge Jehovas in New York namens Joe Gould bei der Dienstabteilung in Brooklyn angerufen und mit Harley Miller gesprochen, einem Mitglied des Dienstabteilungsko­mitees.[25] Er erzählte Miller, einer seiner Arbeitskollegen, ein kubanischer Zeuge mit Namen Humberto Godinez, habe ihm von einem Gespräch berichtet, das dieser bei sich zu Hause mit einem Freund aus dem Bethel geführt habe. Nach seinen Worten habe dieser Bethelmitarbeiter in mehre­ren Punkten Ansichten geäußert, die von den Lehren der Organisation abwichen. Miller legte Gould nahe, von Godinez den Namen des Bethelmitarbeiters zu erfragen. Das tat er auch und fand heraus, daß er Cris Sanchez hieß. Darüber hinaus sagte Godinez, auch mein Name sowie Ed Dunlap und Rene Vazquez seien in dem Gespräch vorgekommen. Miller empfahl Gould und Godinez nicht, sie sollten sich um eine Klärung der Angelegenheit gemeinsam mit den Betroffenen bemühen, oder durch ein brüderliches Gespräch eine Lösung herbeizuführen suchen. Miller sprach nicht mit Ed Dunlap, den er gut kannte und der in einem Büro ihm gegenüber auf der anderen Seite der Straße arbeitete. Er rief auch nicht Rene Vazquez an, den er seit Jahren kannte und dessen freiwillige Chauffeurdienste er regelmäßig in [239] Anspruch nahm. Er setzte sich nicht mit Cris Sanchez in Verbindung, der in der Druckerei der Gesellschaft arbeitete und telefonisch zu erreichen war. Er sprach als erstes mit den Mitgliedern des Dienstabteilungskomitees und erkundigte sich, ob ihnen ähnliche Dinge bekannt geworden seien. Dann ging er zum Vorsitzenden der leitenden Körperschaft, Albert Schroeder.

Ihm wurde gesagt, er solle Godinez und seine Frau zu einer Unterredung zu sich in die Weltzentrale bitten. Kein Wort an Cris Sanchez, Ed Dunlap, Rene Vazquez oder an mich. Offenbar war das Vorsitzenden-Komitee der leiten­den Körperschaft der Auffassung, es sei nicht erstrebenswert, sich um die freundschaftliche Bereinigung der Angelegenheit zu bemühen und so zu verhindern, daß sie überhaupt ein großes Thema wurde.

Miller schlug in seinem Gespräch mit Godinez und seiner Frau vor, dieser solle Rene Vazquez anrufen und „taktvoll“ herausfinden, ob er sich zu der Sache äußern wolle. Es selbst zu tun, hielt Miller nicht für angebracht, und er hielt es auch nicht für ratsam, Ed Dunlap anzurufen oder kurz über die Straße zu gehen, um mit ihm zu reden. Man rief Rene an und erreichte, was man erreichen wollte: Er reagierte auf eine Weise, die man als belastend auslegen könnte. Dann wurde eine weitere Unterredung mit dem Ehepaar Godinez anberaumt, diesmal mit dem Vorsitzenden-Komitee der leitenden Körperschaft, bestehend aus Schroeder, Suiter und Klein. Dieses Gespräch fand am Dienstag, IS. April, statt. Noch immer waren Rene, Ed, Cris und ich nicht unterrichtet worden. Zwei Stunden dauerte die Unterredung; man nahm sie auf Tonband auf. Godinez berichtete, was er noch von der Unterhaltung mit Cris Sanchez wußte, seinem langjährigen Freund, Kuba­ner wie er. Diese hatte nach einem Essen im Hause der Familie Godinez stattgefunden, und es ging dabei um mehrere strittige Themen. Mehrfach erwähnte Godinez die Namen von Rene, Ed Dunlap und mir. Am Schluß der Tonbandaufnahme lobte jedes der drei Mitglieder der leitenden Körper­schaft – Schroeder, Suiter und Klein – das Ehepaar Godinez wegen dessen Loyalität und drückte (auf Band) seine Mißbilligung gegenüber denen aus, die im Verlauf des Gesprächs belastet worden waren.

Wie Miller unternahm auch das Vorsitzenden-Komitee der leitenden Kör­perschaft nichts, um mit Cris Sanchez zu sprechen, über den es nur aus zweiter Hand etwas gehört hatte. Es bemühte sich nicht mit Rene Vazquez, Ed Dunlap oder mir zu sprechen, über die es nur aus dritter Hand informiert worden war. Am nächsten Tag, Mittwoch, 16. April 1980, spielte das Vorsitzenden-Komitee die zweistündige Aufzeichnung des Gesprächs der gesamten leitenden Körperschaft in deren regulärer Sitzung in voller Länge vor (in Abwesenheit von Milton Henschel, Lyman Swingle und mir).

All das hatte sich eine Woche vor Schroeders Anruf bei mir abgespielt, und er rief auch nur deswegen bei mir an, weil ich darum gebeten hatte. Nachdem die leitende Körperschaft das Tonband angehört hatte, kam es zu der Befragung Ed Dunlaps und der gesamten Schreibabteilung. Die Ton­bandaufnahme war der auslösende Faktor, und das wussten die Mitglieder der leitenden Körperschaft, die die Befragungen durchführten (Barry, Barr [240] und Schroeder), auch. Und doch sagten sie nichts davon, auch dann nicht, als Barry und Barr von Ed Dunlap nach dem Grund für die Aushorchung gefragt wurden. Weshalb nicht? Dann ging alles sehr schnell. Man ging ganz gezielt vor und leistete ganze Arbeit. Als erstes wurden Cris Sanchez und seine Frau sowie Nestor Kuilan und dessen Frau verhört. Cris und Nestor arbeiteten gemeinsam in der spanischen Übersetzungsabteilung. in der Rene an zwei Tagen in der Woche tätig war.

Dann rief Harley Miller Rene an und bat ihn, in sein Büro herüberzukom­men, um – wie er zu ihm sagte – seinen „großen Wissensschatz in einigen Dingen kurz etwas anzuzapfen“.

10.5.5 Die großen Drahtzieher bleiben versteckt im Hintergrund

Auf Veranlassung der leitenden Körperschaft wurde für jede Einzelgruppe ein eigenes Untersuchungskomitee eingesetzt, das die Befragung durchfüh­ren sollte. Diesen Komitees gehörten bis auf Dan Sydlik nur Mitarbeiter der Weltzentrale an, die nicht zur leitenden Körperschaft zählten. Diese steu­erte alles durch ihr Vorsitzenden-Komitee, blieb aber selbst von nun an im Hintergrund. Um die Mitglieder der verschiedenen Untersuchungskomi­tees auf ihre Aufgabe vorzubereiten, ließ man ihnen jeweils Ausschnitte des zweistündigen Tonbands vorspielen, das die leitende Körperschaft zuvor angehört hatte. So kam es, daß die Mitglieder dieser Komitees bei ihren Verhören von Sanchez, Kuilan und Vazquez wiederholt meinen Namen und den von Ed gebrauchten. Das Vorsitzenden-Komitee hatte es aber immer noch nicht für angebracht gehalten, uns wenigstens von der Existenz einer solchen Tonbandaufnahme zu unterrichten. Weshalb nicht?

10.5.6 Privatgespräche, auf welche die Gesellschaft Anrechte anmeldet, selbst unter Drohung von Ausschluss

Die Fragen der Untersuchungskomitees zeigten klar, auf welches Ziel sie lossteuerten. Das Komitee, das Nestor Kuilan verhörte, forderte ihn auf, seine Privatgespräche mit Ed Dunlap und mir wiederzugeben. Er erwiderte, er glaube nicht, daß seine Privatgespräche irgendjemand anders etwas angingen, und sprach ihnen das Recht ab, darüber etwas zu erfahren. Dabei stellte er klar, daß er sie selbstverständlich informieren würde, wenn er meinte, es sei etwas Verkehrtes oder „Sündhaftes“ gesagt worden. Seine Befrager sagten ihm, er solle kooperieren oder sonst könne er sich auf einen Gemeinschaftsentzug gefaßt machen. Darauf antwortete er: „Gemein­schaftsentzug? Wofür denn?“ „Weil du Personen deckst, die vom Glauben abgefallen sind.“ Kuilan sagte: „Vom Glauben abgefallen? Wer ist hier vom Glauben abgefallen?“ Sie sagten, das werde gerade ermittelt, doch sie seien sieh ziemlich sicher, daß es solche Personen gebe.

Das ist gerade so, als ob man einem Mann Gefängnis androht, falls er nicht kooperiert und Informationen über andere preisgibt. Fragt er weshalb, sagt man ihm, er sei Mittäter bei einem Bankraub gewesen. Will er wissen, welche Bank ausgeraubt wurde und wer die Täter seien, erfährt er: „Äh, wir wissen zwar noch nicht, welche Bank überfallen wurde und wer es genau war, aber wir sind sicher, dass irgendwo eine Bank überfallen wurde, und wenn du unsere Fragen nicht beantwortest, werden wir dich als Komplize überführt ansehen und ins Gefängnis stecken lassen.“

Nestor berichtete, er habe während seiner Gileadschulzeit bei Ed Dunlap [241] gelernt und seither kenne er ihn, und mich kenne er, seit ich Missionar und Zweigaufseher in Puerto Rico war. Er bestätigte, mit uns beiden verschie­dentlich gesprochen zu haben, doch in diesen Gesprächen sei es um nichts Sündiges oder Schlechtes gegangen und daher seien sie seine Privatangele­genheit.

Als Albert Schroeder am 22. April meiner Bitte nachkam und mich anrief, lief die Justizmaschinerie der Organisation bereits auf vollen Touren, Als Vorsitzender der leitenden Körperschaft kannte er die Details besser als jeder andere, denn alle Untersuchungskomitees unterstanden dem Vorsit­zenden- Komitee.

Er wußte, daß sein Komitee der leitenden Körperschaft eine Woche vor meinem Anruf die schon erwähnte zweistündige Tonbandaufnahme vorge­spielt hatte.

Er wußte, daß sämtliche Untersuchungskomitees vor ihrem Einsatz genaue Instruktionen erhalten hatten, wobei man ihnen auch das Tonband in Auszügen vorgespielt hatte, und daß die Mitglieder dieser Komitees zu derselben Zeit, da er mit mir sprach, meinen Namen und den von Ed Dunlap in ihren Verhören verwendeten.

Er wußte, daß es in den Anhörungen der Komitees um den äußerst schwerwiegenden Vorwurf der Abtrünnigkeit ging. Er, der uns beide seine Brüder nannte und seit Jahrzehnten mit uns vertraut war, mußte um die sehr schweren Folgen wissen, die dieser Vorwurf für uns haben konnte. Und was sagte er mir am Telefon?

Nach der Begrüßung begann ich: „Sag mal, Bert, was geht da eigentlich in der Schreibabteilung vor?“

Er antwortete:

„Tja, weißt du, die leitende Körperschaft meinte, es sei angebracht, sich die Abteilung einmal näher anzusehen, um herauszufinden, wie man die Arbeitsab­läufe verbessern könnte, die Leistungsfähigkeit steigern könnte in der Abteilung, ­und – um zu sehen, ob es Brüder gibt, die in irgendwelchen Punkten Vorbehalte haben.“

Das letzte sagte er so ganz beiläufig, als wäre es nebensächlich. Er hatte eine klare Gelegenheit gehabt, mir zu sagen, was sich abspielte. Er nutzte sie nicht.

Darauf fragte ich, welchen Grund es denn für so umfangreiche Nachfor­schungen geben könne. Jetzt hatte er zum zweiten Mal die Gelegenheit, mir ehrlich zu sagen, was los war. Er antwortete:

„Äh, die Abteilung ist nicht so leistungsfähig, wie sie es eigentlich sein sollte. Das Buch für den Kongreß in diesem Sommer wird zu spät in die Druckerei kommen.“

Ein zweites Mal war er lieber ausgewichen, statt mir offen auf meine Frage zu antworten. Ich erwiderte ihm, das sei nichts Neues, doch im Jahr vorher seien der Kommentar zum Jakobusbrief (geschrieben von Ed Dunlap) wie auch das Buch Wähle den besten Lebensweg (von Reinhard Lengtat) Anfang Januar in die Druckerei gegangen, also früh genug. (Meine Aufgabe war es [242] gewesen, dafür zu sorgen, daß diese beiden Bücher rechtzeitig fertig wurden. An dem Buch für 1980, betitelt Der Weg zu wahrem Glück, schrieb gerade Gene Smalley, der noch nie ein Buch verfaßt hatte; dieses Projekt wurde nicht von mir betreut.) Abschließend sagte ich noch, ich könne nicht einsehen, daß dies ein Grund für solche Nachforschungen sei.

Schroeder fuhr fort:

„Und außerdem sind einige Brüder nicht so ganz zufrieden damit, wie ihre Artikel überarbeitet werden. Ray Richardson hat gesagt, er habe einen Artikel eingereicht (er nannte das Thema) und sei gar nicht erfreut über die Art und Weise, was man daraus gemacht habe.“

Ich sagte darauf: ,,Bert, wenn du auch nur ein bißchen was von Autoren weißt, dann dies, daß keiner es vertragen kann, wenn in seinem Werk herumgestrichen wird. Das ist doch nichts Neues! Das gibt es doch schon, seit es die Schreibabteilung gibt. Was sagt denn Lyman (Swingle, der Koordinator der Schreibabteilung) dazu?“

„Oh, Lyman ist zur Zeit nicht da.“

„Das weiß ich auch“, antwortete ich. „Er ist auf Zonenreise. Hast du ihm geschrieben?“

„Nein.“

Dann sagte ich: „Das kommt mir aber sehr merkwürdig vor, Bert. Nimm mal an, Milton Henschel (der Koordinator des Verlagskomitees, das für die gesamte Produktion der Druckerei zuständig ist) wäre auf Reisen, und nimm an, ein anderes Mitglied des Verlagskomitees wäre ebenfalls weg, meinetwegen Grant Suiter, und der leitenden Körperschaft käme zu Ohren, in der Druckerei laufe alles nicht so optimal. Meinst du, die leitende Körperschaft würde dann beschließen, die Druckerei und ihre Arbeitsab­läufe durch eine Untersuchung auf den Kopf zu stellen, während diese beiden Brüder abwesend sind?“ (Ich wußte, daß man an so etwas nicht einmal im Traum denken würde.)

Er zögerte etwas und sagte dann: „Es ist halt so, daß wir von der leitenden Körperschaft den Auftrag bekommen haben, und jetzt arbeiten wir eben einen Bericht für sie aus. Und den werden wir morgen vorlegen.“

Ich erwiderte: „Ich wäre dir dankbar, wenn du sie wissen ließest, wie ich darüber denke. Ich halte das für eine schwere Beleidigung von Lyman Swingle, menschlich gesehen und auch in Anbetracht seiner Position und seiner langen Dienstzeit, wenn man solche Aktionen unternimmt, ohne ihn zu konsultieren oder wenigstens zu informieren.“

Schroeder sagte, er wolle meine Äußerungen weitergeben. Ich fügte noch hinzu, wenn es irgendetwas gebe, das wirklich wichtig sei und worüber gesprochen werden müßte, könnte ich jederzeit kommen. „Das könntest du?“ fragte er. „Ja, natürlich könnte ich das. Ich brauchte nur ins Flugzeug zu steigen und rüberzufliegen.“ Er fragte, ob ich am kommenden Mittwoch da sein könne. Darauf sagte ich: „Und wofür soll das gut sein, wenn Lyman Swingle dann nicht da ist?“ Damit schloß das Gespräch.

10.5.7 Die Verantwortlichen halten sich verdeckt, das Untersuchungsgericht arbeitet im Finsteren

Mehrfach hatte der Vorsitzende der leitenden Körperschaft der Zeugen [243] Jehovas Gelegenheit gehabt, meine Bitte um Auskunft offen und ehrlich zu erfüllen und zu sagen: „Ray, wir haben das Gefühl, daß da eine schwerwie­gende Sache ins Rollen gekommen ist; es steht sogar der Vorwurf der Abtrünnigkeit im Raum. Wir meinen, du solltest wissen, daß dein Name da mit hineingezogen wird‘; und bevor wir irgendetwas unternehmen, dachten wir, vom christlichen Standpunkt gesehen sei es richtig, zuerst mit dir selbst zu reden.“

Stattdessen sagte er nichts, kein einziges Wort, aus dem hervorging, wie die Dinge standen. Den letzten Teil dieser Äußerung hatte er allerdings sowieso nicht mehr machen können, da er und die anderen Mitglieder des Vorsitzenden-Komitees bereits die ganze umfangreiche Maschinerie von Bandauf­zeichnungen, Untersuchungskomitees und Verhören in Gang gebracht hatten. Die Lagebeschreibung, die der Vertreter der leitenden Körperschaft mir gab, war also schlicht irreführend, ein reines Phantasieprodukt. Nur konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, wie sehr ich an der Nase herumgeführt wurde. Schon bald erfuhr ich mehr, doch fast ausschließlich durch Quellen außerhalb der leitenden Körperschaft.

War schon das Verhalten der leitenden Körperschaft und ihres Vorsitzen­den-Komitees mir gegenüber schwer begreiflich, so wird es vollends uner­klärlich, ja unentschuldbar, daß man zu Ed Dunlap, der doch direkt in der Weltzentrale arbeitete, nicht aufrichtig und ehrlich war. Schon der einfache Anstand hätte Barry und Barr bewegen müssen, ihm auf seine Fragen nach dem Zweck des Verhörs zu sagen, weshalb die leitende Körperschaft sie beauftragt hatte und welche schweren Anklagen erhoben wurden. Jesus Christus sagte, wir sollten andere so behandeln, wie wir von ihnen behan­delt werden wollten. Christliche Grundsätze hätten es zwingend erfordert, daß ihm jemand ins Angesicht sagt, welche Anschuldigungen über Abtrün­nigkeit hinter seinem Rücken erhoben wurden. Diejenigen, die die Vor­würfe kannten, wollten es nicht tun. Und sie taten das bewußt noch fast einen ganzen Monat lang nicht! Und dabei nannten sie seinen (und meinen) Namen erst gegenüber den Mitgliedern der Untersuchungskomitees, später gegenüber den Rechtskomitees, insgesamt über einem Dutzend Männern, und noch immer ging niemand von der leitenden Körperschaft zu ihm und teilte ihm mit, welche schweren Vorwürfe mit seinem Namen verbunden wurden. Und viele von ihnen hatten täglich mit ihm Kontakt!

Wie man eine solche Handlungsweise noch als christlich ansehen kann, weiß ich nicht.

10.6 Die eiserne Hand derer, welche ihre Macht lieben und missbrauchen
10.6.1 Erste Ausschliessungen aus der Gemeinschaft künden drohende Gerichte an: Die Köpfe von Cris Kuilan und dessen Frau, Rene und Else Vasquez rollen als erste

Am Freitag, den 25. April, ganze drei Tage nach Schroeders Anruf, wurden Cris Sanchez und seine Frau sowie Nestor Kuilan durch die von der leitenden Körperschaft eingesetzten Rechtskomitees aus der Gemeinschaft ausgestoßen, Ein anderes Rechtskomitee schloß Rene und Else Vazquez sowie einen Ältesten ihrer Nachbarversammlung aus der Organisation aus. Alle Namen außer dem des Ältesten wurden vor der gesamten Belegschaft der Weltzentrale verlesen mit dem Hinweis, daß ihnen die Gemeinschaft entzogen worden sei. Damit informierte die leitende Körperschaft über 1500 [244] Personen, hielt es aber nicht für angezeigt, auch mir etwas davon zu sagen. Natürlich habe ich es dann auch erfahren, aber nicht durch meine Amtskol­legen von der leitenden Körperschaft, sondern durch Anrufe der Betroffenen. Diane Beers, zehn Jahre lang Mitarbeiterin in der Weltzentrale und gut mit den Ehepaaren Sanchez und Kuilan bekannt, beschreibt in einem Brief, wie die Ereignisse der Woche vom 21. bis 26. April 1980 auf sie gewirkt haben:

„Ich glaube, was sich mir am stärksten eingeprägt hat, war die grausame Art und Weise, in der man mit den Brüdern verfuhr. Sie wußten nie, wann sie vor einem Komitee zur Verhandlung erscheinen sollten. Das Telefon klingelte plötzlich und Cris wurde geholt. Nachher kam er zurück, das Telefon klingelte wieder, und nun war Nestor an der Reihe. Und so ging das die ganze Zeit. Man ließ sie die ganze Woche über völlig im Unklaren. Norma erzählte mir einmal, das Komitee wolle mit ihr reden, ohne daß Cris dabei sei, und sie wisse nicht, was sie tun solle. Ich riet ihr, nie ohne Cris zu gehen, sonst hätte sie keinen Zeugen dafür, was man ihr gesagt und was sie geantwortet hat. Sie könnten alles Mögliche behaupten, und dann hätte sie keine Chance, das Gegenteil zu beweisen. Langsam wurde offensichtlich, daß Norma gegen Cris ausgespielt werden sollte.

Am Freitagnachmittag (25. April) schließlich kreuzte das Komitee um 16.45 Uhr im 8. Stock auf, wo wir alle arbeiteten, und ging gleich ins Konferenzzimmer, das neben meinem Arbeitsplatz lag. Kurz darauf war Arbeitsschluß, und alle gingen heim. Ich blieb aber da, weil ich sehen wollte, wie es ausging. Nacheinander wurden Cris und Norma und Nestor und Toni hineingerufen; immer wenn einer herauskam, ging ich hin, um zu erfahren, wie der ,Schuldspruch‘ lautete. Ich weiß noch, wie ich in Nestors Büro ging, um mit ihm und Toni zu reden, und sie zu mir sagten, ich solle lieber gehen, sonst würde ich auch noch Ärger bekommen, weil ich mit ihnen zusammen gesehen worden sei. Ich ging zu Fuß nach Hause und mußte auf dem ganzen Weg gegen die Tränen ankämpfen. Ich konnte einfach nicht mehr, so schrecklich war es. Ich konnte nicht fassen, was da vor sich ging. Das ist ein Gefühl, das ich nie vergessen werde. Viele Jahre lang hatte ich hier ein Zuhause gefunden und mich wohlgefühlt, und jetzt kam ich mir völlig fremd vor. Ich mußte daran denken, wie Jesus sagte, an ihren Früchten werde man sie erkennen, und in meinen Augen hatte das, was ich in dieser Woche erlebt hatte, mit christlichem Handeln einfach nichts mehr zu tun. Es war so gefühllos und ohne Liebe. Diese Menschen hatten viele Jahre lang für die Gesellschaft gearbeitet, hatten einen guten Ruf und wurden von allen sehr geschätzt. Und doch zeigte man ihnen keine Barmherzigkeit. Das war unfaßbar für mich.

An dem Abend hatten wir Versammlung, aber ich bin einfach nicht hingegangen, denn ich war zu aufgebracht. Als Leslie (die Zimmergenossin) nach der Versamm­lung zurückkam, unterhielten wir uns noch, und auf einmal klopfte es. Es muß so gegen 11 Uhr gewesen sein. Toni Kuilan war es. Sie war noch gar nicht richtig drin, da brach sie schon schluchzend zusammen. Sie wollte nicht, daß Nestor erfuhr, wie sehr sie das alles mitnahm. Wir saßen zusammen und heulten und redeten. Wir sagten ihr, daß sie und Nestor noch genauso unsere Freunde seien wie vorher. W