Gefährlicher Präzedenzfall für alle dem Staat und/oder der orthodoxen Kirche nicht genehmen Religionsgemeinschaften

Der zentralen Organisation der Zeugen Jehovas in Russland droht die Auflösung als „extremistische“ Organisation, seit am 10. Mai die in einer offiziellen Verwarnung der Staatsanwaltschaft gesetzte Frist abgelaufen ist. In dieser Verwarnung wurde der Organisation mitgeteilt, dass „extremistische Betätigung nicht erlaubt ist“. In der Verwarnung heißt es weiter, die Organisation müsste innerhalb von zwei Monaten „bestimmte organisatorische und praktische Maßnahmen“ ergreifen, um weitere Verstöße gegen das Extremismusgesetz zu verhindern. Für den Fall, dass die Zentrale der Zeugen Jehovas die behaupteten Gesetzesverletzungen nicht abstellt oder während der kommenden zwölf Monate neue Beweise für Extremismus auftauchen, wird der Organisation die Auflösung angedroht. In dem Dokument werden die geforderten „bestimmten organisatorischen und praktischen Maßnahmen“  nicht näher definiert. Jede Verurteilung eines Mitglieds der Gemeinschaft oder einer örtlichen Organisation kann der Staatsanwaltschaft als Grund für die Auflösung der Verwaltungszentrale der Zeugen Jehovas dienen. Wenn die Staatsanwaltschaft entscheidet, die Auflösung der Organisation weiter zu betreiben, bedeutet dies ein drohendes Verbot aller Aktivitäten für über 2.500 örtliche Versammlungen der Gemeinschaft in ganz Russland und einzelne Zeugen Jehovas würden eine strafrechtliche Anklage riskieren, wenn sie mit anderen Menschen über ihren Glauben sprechen.

Sollte die Staatsanwaltschaft die Auflösung erfolgreich weiter betreiben, wäre dies der erste Präzedenzfall der Auflösung einer zentralisierten religiösen Organisation mit aktiven örtlichen Gemeinschaften wegen „Extremismus“.

Den Rechtsanwälten der Gemeinschaft steht eine Frist bis 10. Juni zur Verfügung, um die Verwarnung vor Gericht anzufechten. Die Anwälte beabsichtigen die Anfechtung vor einem Moskauer Gericht und hoffen nach wie vor auf einen Ausgang zu ihren Gunsten.

Die russischen Zeugen Jehovas bestreiten vehement, dass sie eine extremistische Organisation seien. „Die verleumderischen Beschuldigungen des ‚Extremismus‘ gegen uns werden lediglich verwendet, um die religiöse Intoleranz derjenigen zu maskieren, die mit unseren Überzeugungen nicht einverstanden sind“, erklärte der Vertreter des Verwaltungszentrums der Gemeinschaft, Vasiliy Kalin, auf der Webseite jw.org am 27. April. „Wir sind keine Extremisten“.

„Mit extremistischen Gruppen in einen Topf geworfen zu werden und unsere Schriften auf einer Liste mit den Schriften gewalttätiger Terroristen zu finden, ist für die Zeugen Jehovas ein Affront gegen Anstand und Gerechtigkeit“, erklärte der Generalanwalt der Gemeinschaft, Philip Bromley aus New York auf derselben Website.

Der Gebrauch bzw. Missbrauch der Gesetze gegen den Extremismus ist schon seit einigen Jahren die größte Bedrohung für die Religions- bzw. Glaubensfreiheit in Russland. Bisher richtete sich diese Strategie vor allem gegen Muslime (insbesondere die friedlichen Leser der Werke des verstorbenen türkischen Theologen Said Nursi) und Zeugen Jehovas.

Die Verwaltungszentrale der Zeugen Jehovas in Russland mit Sitz am Stadtrand von St. Petersburg ist seit 1999 als „zentralisierte religiöse Organisation“ registriert. Die erste offizielle Registrierung erfolgte bereits 1991 nach sowjetischem Recht. Die Präsenz der Gemeinschaft in Russland ist allerdings bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts belegt.

Quelle: ead